Spaziergang im Regen
alles – die hektischen Transkontinental- und Transatlantikflüge, das stundenlange Warten auf Jessa in der Kälte, Jessas Rückkehr, ihr Streit und dann Jessas wundervolle Fürsorge, als ihr schlecht wurde. Und dann die Nacht in Jessas Bett. Wo sie noch immer war, aber Jessa nicht. Sie räkelte sich lächelnd, genoss das Gefühl der Laken an ihrer empfindlichen Haut. Sie fühlte sich geliebt, vollkommen entspannt und hungrig. Mit einem leicht schlechten Gewissen hegte sie die Hoffnung, dass Jessa irgendwo dort draußen war und etwas zu essen machte.
Sie hob den Kopf und suchte nach einer Uhr. Es gab keine, aber ihre Armbanduhr lag auf dem Nachttisch. »Zwei Uhr!« Sie konnte kaum glauben, dass sie fast zehn Stunden geschlafen hatte. Als ihr klar wurde, dass sie innerhalb von wenigen Sekunden, nachdem sie sich mit Jessa geliebt hatte, eingeschlafen war, lief sie rot an. Sie erinnerte sich, irgendwo gelesen zu haben, dass Frauen nach Sex gern kuschelten und fürchtete, einen bedeutenden lesbischen Test vermasselt zu haben. Sie hatte sich immer gewundert, warum andere Frauen etwas dagegen hatten, wenn ihre Männer und Freunde direkt danach einschliefen – vielleicht weil sie nie eine solch tiefe emotionale Verbindung mit einem ihrer Partner gehabt hatte. Ich werde es wiedergutmachen , gelobte sie sofort und musste bei der Erkenntnis grinsen, dass ihre Motive dabei nicht rein selbstlos waren. Da sie nie einen besonders ausgeprägten Sexualtrieb gehabt hatte, wunderte sie sich über sich selbst und noch viel mehr darüber, was sie in der vergangenen Nacht gefühlt und getan hatte.
Sie zog Jessas Kissen an sich, umarmte es, atmete tief ein und war wie berauscht vom Geruch ihrer Geliebten. Sie schloss die Augen und lächelte weiter in sich hinein. Sie war verliebt. Sie war noch nie zuvor so verliebt gewesen. Jessa Hanson brachte Frieden in ihre Seele. Und sie ist auch nicht schlecht, was das Körperliche betrifft.
Das Verlangen, die Frau zu sehen, die ihre Gedanken beherrschte und ihr Herz füllte, wurde so groß, dass sie sich nach dem Bademantel umsah, den sie am Abend zuvor getragen hatte. Ihr Lächeln wurde breiter, als sie sich daran erinnerte, dass sie ihn auf dem Wohnzimmerboden zurückgelassen hatte. Jessas weißes Hemd lag auf dem Boden nah der Schlafzimmertür, also zog sie das an und freute sich, als sie feststellte, dass Jessas Parfüm noch immer im Stoff hing.
Das erste was ihr auffiel, als sie ins Wohnzimmer kam, war die Musik: Signore, ascolta! aus Puccinis Turandot . Shara erinnerte sich gut an die Szene, in der Liù, das Sklavenmädchen, Calaf anflehte, nicht sein Leben zu riskieren, um die Liebe der herzlosen Prinzessin zu gewinnen. Sie hatte bereits eingestanden, dass ihre Aufopferung in der Sorge um seinen Vater von einem einzigen Lächeln Calafs ausgelöst worden war, weil sie sich damals in ihn verliebt hatte. Es war ein wunderschönes Liebeslied, obwohl Liù wusste, dass ihnen die Gesellschaft, in der sie lebten, kein glückliches Ende gestatten würde.
Shara überlief es für einen Moment eiskalt, als ihr bewusste wurde, dass auch ihre Liebe von einigen Teilen der Gesellschaft missbilligt werden würde. Sie schüttelte den Gedanken ab und schaute sich suchend um, bis sie Jessa entdeckte, die die Lippen zum Text bewegte und in einer Schüssel etwas umrührte.
Als hätte sie bemerkt, dass sie beobachtet wurde, hob Jessa den Kopf, und als sie Shara sah, brach sie in ein Lächeln aus.
Als Shara Jessas Lächeln sah, konnte sie nachvollziehen, wie Liù sich gefühlt hatte, weil genau dieses Lächeln einer der Gründe für ihre Verliebtheit war. Natürlich schadeten auch weder das zerzauste Haar, die großen, braunen Augen oder der umwerfende Körper, noch die Intelligenz, das Mitgefühl, die Sanftheit oder das unglaubliche Talent auf dem Podium und im Schlafzimmer , fügte Sharas plötzlich sexsüchtiges Hirn hinzu. Jessa stand dort in einer seidenen Schlafanzughose und einem weißen T-Shirt, und Shara wollte plötzlich nichts anderes mehr, als sie zurück ins Schlafzimmer zu zerren und sie auszuziehen, trotz ihres knurrenden Magens.
Jessa hatte beschlossen, dass Shara ein großes, einigermaßen gesundes Frühstück verdient hatte. Seit sie aufgewacht und Shara in ihrem Bett vorgefunden hatte, war das Lächeln nicht mehr von ihren Lippen gewichen. Shara musste erschöpft gewesen sein, denn sie war fast sofort eingeschlafen, nachdem sie sich geliebt hatten, einen Arm um Jessa gewunden und
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