Spaziergang im Regen
zusammen, weil ihr euch nicht liebt. Aber berichtige mich ruhig, wenn ich da falsch liege.«
Jessa setzte ihr Glas ab, schob den Stuhl vom Tisch und stand auf. »Shara hat mir gesagt, dass sie mich liebt, aber ich dachte, dass sie sich inzwischen jemand anderen gesucht hätte.«
»Weil Stephanie sich jemand anderen gesucht hat, als du sie für ein paar Monate allein gelassen hast? Jessa, Shara ist doch nicht Stephanie, aber du behandelst sie so, als ob sie es wäre.«
»Sie wollte unsere Beziehung geheimhalten.« Jessa war erleichtert, endlich darüber reden zu können. »Sie hat sogar die gleichen Worte benutzt wie Stephanie. Ich habe schon vor mir gesehen, wie meine Zukunft wieder in ›Diskretion‹ und Lügen versinkt.« Sie verschränkte ihre dünnen Arme beschützend vor ihrem Körper. »Das war damals so ein Alptraum: komplizierte Lügen für die Presse und die Leute, denen ich begegnete; alte Freunde, von denen ich mich fernhalten musste, weil sie lesbisch oder schwul waren, und das hätte dann ja Fragen aufwerfen können . . . Ich habe in einer Scheinwelt gelebt und mich irgendwann deren Regeln ergeben . . . was mich fast umgebracht hätte. Und dann musste ich ja herausfinden, dass Stephanie ihre ganz eigenen Gründe dafür hatte, unsere Beziehung geheimzuhalten.« Sogar so viele Jahre danach schien der Schmerz groß genug, um sich in ihrer Stimme widerzuspiegeln und den Sommerabend merklich abzukühlen.
»Und du glaubst, dass Shara ähnliche Gründe hatte? Hast du deshalb gefragt, ob sie einen neuen Mann gefunden hat?«
»Nein. Ach, ich weiß nicht.« Sie setzte sich wieder und sah Lisa mit hilflosem Blick an. »Ich weiß nur, dass es da etwas gibt, was sie mir nicht erzählt hat. Ich kenne sie, und sie hatte Angst, aber nicht vor irgendwelchen Pressefuzzis. Sie wollte nicht mit nach Argentinien kommen, aber sie wollte mir auch nicht den wirklichen Grund dafür verraten. Meiner Erfahrung nach kann das nur auf das eine hinauslaufen –«
»Also dachtest du dir, du tust es ihr an, bevor sie es dir antut.«
Der Satz hing zwischen ihnen in der Luft, und Jessa dachte darüber nach. War sie wirklich nicht fair gewesen? Bezahlten sie nun beide die Rechnung für etwas, was Stephanie getan hatte? Wenn ich im Unrecht bin, kann Shara mir jemals verzeihen? Die Frage schlug ihr auf den Magen. »Wie geht es ihr denn?« fragte sie eine Weile später mit dünner Stimme.
»Ungefähr so wie dir: Sie sieht wie immer umwerfend aus, ist aber viel zu dünn, und sie hat einen gequälten Ausdruck in den Augen. Du kannst es ja selbst sehen – sie sollte in gut einer halben Stunde oder so im Fernsehen sein. Die Preisverleihung des Filmfestivals wird live übertragen, und sie ist nominiert.«
Shara wünschte sich, irgendwo anders zu sein als dort, wo sie war. Sie trug, dem Anlass angemessen, ein enganliegendes bronzefarbenes Abendkleid mit Spaghettiträgern, die den Blick auf ihre samtenen, gebräunten Schultern freigaben. Dazu passend hatte sie eine dünne Goldkette mit einem Diamanten in Tropfenform angelegt. Ihr Haar war locker hochgesteckt und ihre Make-up von einem Profi aufgetragen. Aber sie war einfach nicht in der Stimmung, so vielen Menschen gegenüberzutreten.
Seit dem Mittagessen mit Lisa am Vortag und der Nachricht von ihrem Vater hatte sie noch einmal ihre eigene Reaktion auf Jessa durchdacht und warum Jessa dagegen war, ihre Beziehung auch nur für eine kurze Zeit geheimzuhalten.
Tony hatte seine Beziehungen zum Hotelpersonal genutzt und ihr dabei geholfen, zu Lisa vorzudringen. Das Treffen mit ihr und das Gespräch beim Essen waren gut verlaufen und hatten sie beide daran erinnert, dass sie sich grundsätzlich sympathisch fanden. Shara war allerdings auch verärgert, nichts erfahren zu haben, das ihr hätte erklären können, warum Jessa im Februar so vehement reagiert hatte.
Lisa hatte sich geweigert, irgendwelche Einzelheiten aus Jessas Vergangenheit zu erzählen, und lediglich darauf hingewiesen, dass die Biographie nur an der Oberfläche dessen kratzte, was Jessa durchgemacht hatte. Sie hatte Shara außerdem zu bedenken gegeben, dass Jessas Verhalten in der Öffentlichkeit keinen direkten Rückschluss auf ihre wahren Gefühle zuließ, aber genaueres darüber könnte ihr nur Jessa selbst erzählen. Das hätte Shara fast zum Schreien gebracht, weil sie doch beide wussten, dass Jessa sich weigerte, sie zu sehen oder mit ihr zu sprechen, und sie wusste einfach nicht, was sie dagegen unternehmen
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