Special - Zeig dein wahres Gesicht

draußen noch jemand? Jemand, der gesehen hatte, wie sie auf den Baum geklettert war? Phantome flackerten an den Rändern ihres Sichtfeldes. Ihr Körper sehnte sich danach zu handeln, statt sich hier oben zwischen Blättern und Zweigen zu verstecken.
    Einen langen Moment blieb die Gestalt bewegungslos stehen. Dann hob sich der Kopf sehr langsam, um nach oben zu schauen.
    Tally zögerte nicht - sie ließ sich fallen, glättete die Schuppen ihres Tarnanzugs zum nachtschwarzen Panzer, schlang beide Arme um die Gestalt und zog sie mit sich zu Boden. Aus der Nähe verschlug der Gestank ihr fast den Atem.
    „Ich will dir nicht wehtun“, zischte sie durch die Maske ihres Tarnanzugs. „Aber ich tue es, wenn es sein muss.“
    Der junge Mann wehrte sich einen Moment lang und Tally sah in seiner Hand ein Metallmesser aufblitzen. Sie drückte fester zu, presste ihm mit einem Knacken der Rippen die Luft aus der Lunge, bis das Messer aus seinen Fingern rutschte.
    „Sayshal“. flüsterte er.
    Seine Aussprache ließ Tally erschauern, weckte eine leise Erinnerung. Sayshal? Dieses seltsame Wort hatte sie schon irgendwo gehört. Sie schaltete die Infrarotsicht aus, zog ihn auf die Füße, stieß ihn rückwärts und hielt sein Gesicht in einen verirrten Mondstrahl.
    Er hatte einen Bart und ein schmutziges Gesicht, seine Kleidung bestand nur aus grob zusammengeflickten Tierhäuten. „Ich kenne dich“, sagte sie leise.
    Als er keine Antwort gab, streifte Tally die Kapuze ab und zeigte ihm ihr Gesicht.
    „Jung-Blut“, sagte er und lächelte. „Du hast dich verändert.“

Barbar
    Sein Name war Andrew Simpson Smith und Tally war ihm schon einmal begegnet.
    Als sie in ihren Pretty-Tagen aus der Stadt geflüchtet war, hatte es sie in eine Art Reservat verschlagen, ein von den Wissenschaftlern aus der Stadt veranstaltetes Dauerexperiment. Die Menschen im Reservat lebten wie die Prä-Rusties, sie trugen Tierfelle und benutzten nur Werkzeug aus der Steinzeit - Keulen und Stöcke und Feuer. Sie bewohnten kleine Dörfer, die ununterbrochen Krieg gegeneinander führten. Es war ein endloser Kreislauf aus Blutrachen, den die Wissenschaftler studieren konnten wie ein unverfälschtes Stück menschlicher Gewalttätigkeit zwischen den beiden Hälften einer Petrischale.
    Die Leute in den Dörfern wussten nichts vom Rest der Welt, sie wussten auch nicht, dass jedes ihrer Probleme - Hunger und Seuchen und Blutvergießen - schon vor Jahrhunderten von den Menschen gelöst worden war. Genauer gesagt, sie hatten das nicht gewusst, bis Tally auf eine ihrer Jagdgruppen gestoßen war, fälschlicherweise für eine Gottheit gehalten wurde und einem heiligen Mann namens Andrew Simpson Smith die Wahrheit erzählt hatte.
    „Wie bist du rausgekommen?“, fragte sie.
    Er lächelte stolz. „Ich habe den Rand der Welt überschritten, Jung-Blut.“
    Tally hob eine Augenbraue. Das Reservat wurde von „kleinen Männern“ bewacht, mit Nervenhackern ausgerüstete Puppen, die an Bäumen hingen und allen, die zu dicht herankamen, entsetzliche Schmerzen bereiteten. Die Dörflinge waren viel zu gefährlich, um in der echten Wildnis frei herumlaufen zu dürfen, deshalb hatte die Stadt ihrer Welt unübertretbare Grenzen verpasst.
    „Wie hast du das geschafft?“
    Andrew Simpson Smith schmunzelte, als er sich nach seinem Messer bückte, und Tally unterdrückte den instinktiven Wunsch, es ihm aus der Hand zu treten. Er hatte sie „Sayshal“ genannt, das war das Wort der Dörflinge für die verhassten Specials. Doch jetzt, da er ihr Gesicht gesehen hatte, erinnerte er sich an Tally als an eine Freundin, eine Verbündete gegen die Gottheiten aus der Stadt. Er hatte keine Ahnung davon, was das neue Netz aus Puls-Tätowierungen bedeutete, konnte nicht wissen, dass sie jetzt zu den gefürchteten Vollstreckern der Gottheiten gehörte. „Nachdem du mir erzählt hattest, was es hinter dem Rand der Welt alles gibt, Jung-Blut, habe ich mich gefragt, ob die kleinen Männer wohl vor irgendetwas Angst haben.“
    „Angst?“
    „Ja. Ich habe vieles ausprobiert, um sie zu erschrecken. Lieder, Zaubersprüche. Und Bärenschädel.“
    „Ähm, das sind keine wirklichen Männer, Andrew. Nur Maschinen. Die können keine Angst empfinden.“
    Sein Gesicht wurde jetzt ernster. „Aber Feuer , Jung-Blut. Ich habe gelernt, dass sie sich vor Feuer fürchten.“
    „Feuer?“ Tally schluckte. „Äh, Andrew, war das zufällig ein richtig großes Feuer?“
    Jetzt lächelte er wieder. „Es hat