SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
Buch lesen; gefühlte 95 Prozent starren in ihre Rechner oder daddeln an ihren Smartphones oder beides gleichzeitig (so wie ich) â, frage ich mich, was ich eigentlich in München will. Warum fahre ich eigentlich zu diesem Rühle? Will ich mich nur selbst beruhigen, dass da jemand sein Internet- und Handynutzungsverhalten vielleicht noch weniger unter Kontrolle hat als ich? Oder will ich mir selbst bestätigen, dass solche Selbstversuche sowieso nichts bringen und ich deswegen erst gar nicht damit anfangen muss. Was will ich eigentlich genau wissen? Nach und nach fallen mir die Fragen wieder ein, die mich nach unserem Telefongespräch noch ein paar Tage beschäftigt haben. Mich interessiert, wie sich das so anfühlt, ein Leben auÃerhalb der digitalen Wolke. Wird es stiller, gerichteter oder zentrierter? Hatte Rühle euphorische Gefühle bei seinem Selbstversuch? Oder Entzugserscheinungen?
Diese und andere Fragen gehen mir durch den Kopf, als ich am Münchner Hauptbahnhof ankomme und mit der S-Bahn zur Süddeutschen Zeitung in den Münchner Osten weiterfahre. Die Redaktion der SZ ist hier in einem neuen Glasturm untergebracht, der genauso auch in Frankfurt, London oder Dubai stehen könnte. Der breite bayerische Akzent des Pförtners ist das Einzige, was darauf hinweist, dass ich in München und nicht in Dubai bin. Rühles Büro sei im neunzehnten Stock, teilt er mir mit. Er wirkt mit seinem Dialekt irgendwie aus der Zeit gefallen und will so gar nicht zum steril-schicken Interieur des Foyers passen, an dessen Wand riesige Monitore hängen, auf denen verschiedene Nachrichtenkanäle und Börsenkurse gleichzeitig laufen. Könnte genauso eine Bank sein, denke ich mir.
Auf dem Weg in den neunzehnten Stock fällt mir noch eine weitere Frage ein, die mich brennend interessiert. Hat Rühle bei seinem Selbstversuch geschummelt? Heute ist übrigens der letzte Tag seines Unterfangens. Dann hat er das halbe Jahr geschafft. Die Tür des Büros steht offen. Rühle telefoniert gerade noch, winkt mich aber freundlich rein. Er ist ein paar Jahre älter als ich, denke ich, vielleicht Anfang vierzig, leger gekleidet und sieht eher aus wie ein zerzauster Künstler, nicht so sehr wie ein Redakteur.
Rühle legt auf und begrüÃt mich freundlich. Wir setzen uns an einen Tisch an der Fensterfront seines Büros, beschlieÃen, uns ab sofort zu duzen, und sind, ganz ohne Umschweife, sofort beim Thema. Warum er den Selbstversuch auf sich genommen hat, will ich wissen. Er holt tief Luft, ungefähr das letzte Mal für die nächsten drei Stunden, und legt dann los. Als müssten all die aufgestauten Erlebnisse dringend raus. Auch ganz schön. Diesmal bin ich der Therapeut und Alex der Patient. So gefällt mir das besser.
Er habe einfach das dringende Bedürfnis gehabt, etwas zu ändern, erklärt Alex. Er bekomme circa sechzig Mails am Tag und schreibe fünfzig. Den ganzen Tag prasselten die in sein Postfach, während er versuche, Texte zu schreiben und sich zu konzentrieren. Das sei aber in den letzten Jahren unmöglich geworden. »Ich biege nach jedem zweiten Absatz ins Netz ab und denke, ich gucke mal kurz Spiegel Online, und wenn ich wieder rauskomme, ist eine halbe Stunde vergangen, und ich weià nicht, wo sie hin ist. Und wenn ich abends nach Hause kam, habe ich sofort den Rechner angemacht. Und dann hatte ich irgendwann diese Teufelsmaschine BlackBerry. Und die hat mich fertiggemacht«, erzählt er und grinst dabei verlegen. »Ich war nie süchtig, ich habe nie viel getrunken, und ich hatte immer das Gefühl, ich habe vielleicht kein besonderes Leben, aber immerhin versacke ich nicht in irgendeiner lebenszerrüttenden Sucht. Und dann kam dieses BlackBerry daher, und aus dem Stand war ich von dem Ding abhängig. Ich hab das einfach überhaupt nicht unter Kontrolle gehabt.«
Hab ichâs doch gewusst. Es gibt Leute, denen es noch schlimmer geht als mir. Ich komme mir bei dem Gedanken zwar ein bisschen schäbig vor, aber insgeheim bin ich ganz erleichtert zu sehen, dass auch ein gestandener Redakteur der gröÃten Tageszeitung Deutschlands, ähnliche Probleme hat wie ich und mir hier dazu noch so offen von seiner Verzweiflung berichtet. Dass er das mit einer gehörigen Portion Selbstironie tut, erleichtert die Sache ungemein. Sonst käme ich mir am Ende des Tages doch noch vor wie bei den Anonymen
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