SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
lassen. So wie er es beschreibt, muss er ein erbärmliches Bild abgegeben haben an dem Tag, als er seinen BlackBerry abgegeben und seinen Netzzugang hat sperren lassen. So wie jemand, den man in jahrelange Isolationshaft abführt.
Er übertreibt bestimmt maÃlos. Mir gegenüber sitzt jedenfalls kein Wrack, sondern ein äuÃerst vergnügter und guter Erzähler. Ich würde allzu gern wissen, ob seine gute Laune davon kommt, dass ihm das Experiment so gutgetan hat, oder davon, dass es morgen vorbei ist.
Und ich frage mich, wie sich der erste Tag seines Experiments für Alex angefühlt hat. Wenn er süchtig war, das habe ich ja inzwischen von meinem Burn-out-Therapeuten gelernt, muss er doch so etwas wie Entzugserscheinungen gehabt haben.
»Ja, Wahnsinn, furchtbar, ich bin halb durchgedreht. Wie so ein Raucher. Weil, normalerweise hat man ja den Rechner an und hat ja alles da drinnen. Und wenn ich früher an einem Text saÃ, bin ich immer irgendwo ins Netz abgebogen. Alle paar Minuten. Und das ging plötzlich nicht mehr. Ich hatte nur noch diese weiÃe Artikelfläche vor Augen. Furchtbar. Und das Netz kam mir vor wie die great planes , diese endlose Weite der Freiheit des Netzes. Und ich saà hier wie eingesperrt und konnte nicht mehr raus. Schlimm war das«, sagt er und grinst dabei voller Selbstironie.
Bis jetzt animieren seine Erfahrungen ja nicht gerade zum Nachmachen. Erst die traurige Selbsterkenntnis, süchtig zu sein, dann die Selbstzweifel, den Selbstversuch nur unter Zeugen hinzubekommen, und schlieÃlich auch noch so etwas wie ein kalter Entzug. Nee, so was muss ich mir jetzt nicht auch noch antun. Ob es wohl irgendwann besser wurde?
»Zuerst überhaupt nicht. Die ersten Tage fühlte ich mich leer und nervös. Man ist halt ein Gewohnheitstier. Ich dachte, dieses Ohnmachtsgefühl dauert Wochen«, beschreibt Alex die erste Zeit des Selbstversuchs. »Aber das hat es dann nicht. Plötzlich hab ich gemerkt, dass ich hier auf der Arbeit auf einmal konzentrierter Texte schreiben kann, weil ich nicht mehr abbiegen konnte. Du suchst dir dann zwar andere Kanäle, und sicher, du plapperst mehr mit Kollegen rum. Am dritten oder vierten Tag dachte ich: âºJetzt bin ich wohl verhaltensauffällig.â¹ Ich stand dann plötzlich immer so bei Kollegen im Büro rum. Aber insgesamt kam es mir so vor, als wäre ich konzentrierter.«
Er erzählt von seinen Erlebnissen als analoger Eremit in der digitalen Welt. Ich lehne mich zurück und höre ihm gebannt und vergnügt zu. Es sei wirklich nicht einfach gewesen, sich durch diese analoge Restewelt zu tasten mit Fax und Briefkasten und Telefonzellen. Er sei sich vorher nie bewusst darüber gewesen, wie schnell diese analoge Welt hinter unserem Rücken »eingesaugt wird vom Netz« und dass die analogen Kommunikationsstrukturen einfach in einem beeindruckenden Tempo verschwänden. Und auf genau diese analogen Strukturen war er plötzlich angewiesen. Vor allem ein Erlebnis habe ihm das besonders klar gemacht. In der Redaktion habe er einmal mehrere Tage auf ein dringendes Fax gewartet. Immer wieder sei er zum Faxgerät gelaufen. Aber es sei kein Fax gekommen. »Auf dem Faxgerät stand: âºBitte wartenâ¹. Ich habe gewartet, es kam nichts. Ich bin technisch total unbegabt, und das Einzige, was mir da einfällt, ist, aus- und wieder einzuschalten. Das hab ich gemacht, und dann fing das Fax an, mit einem röchelnden Gequietsche Seiten auszuspucken. Aber nicht mein Fax, sondern Faxe von Montag, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag. Das heiÃt in dieser Redaktion, in der es ziemlich rund geht, ist fünf Tage keinem aufgefallen, dass das Faxgerät nicht mehr funktioniert, weil keiner mehr Faxe braucht und Faxe erwartet. Das ist einfach ein Dinosaurier. Und auf so etwas war ich plötzlich angewiesen. Oder wenn ich Leute nach einer Telefonzelle fragte, antworteten die: âºTelefonzellen gibt es doch gar nicht mehr!â¹ Obwohl die ja doch sehr auffällig in der Gegend rumstehen.«
So einen Selbstversuch trotz aller Widrigkeiten des Alltags durchzuhalten stelle ich mir ja schon zermürbend genug vor, doch was mich total nerven würde, wäre, allen erklären zu müssen, warum ich kein Handy benutze und nicht ins Netz gehen kann. Das wäre mir wirklich zu doof. Ich frage mich, wie die Leute reagiert haben, als sie von Alexâ Selbstversuch erfuhren.
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