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SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit

SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit

Titel: SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Opitz
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und würde mich nicht mehr so gehetzt fühlen.
    Es muss ja auch wirklich nicht sein, dass ich morgens, noch bevor ich mir einen Kaffee mache, nachsehe, ob mir irgendjemand nachts eine wichtige E-Mail geschrieben hat. Und meine Freundin hat sich auch schon häufig darüber beschwert, dass ich abendelang vor dem dämlichen Rechner sitze. Ich rechtfertige mich dann immer, dass ich dringend noch dies oder noch ganz kurz jenes machen müsste, für die Arbeit, Bürokram, Steuer. Ist klar. In Wirklichkeit hat sie mich gerade dabei ertappt, wie ich wieder, ohne es so richtig zu merken, in irgendwelche Untiefen des Netzes abgetaucht bin, nochmal eben schnell diesen Artikel bei Spiegel Online gelesen oder bei eBay vorbeigeschaut habe. Hab ich das Netz noch unter Kontrolle oder zappele ich schon längst hilflos darin herum? Das Internet ist eine gigantische Zeitfressmaschine. Und, nein! So richtig hab ich meinen Netzkonsum nicht unter Kontrolle, aber ist das wirklich gleich Suchtverhalten?
    Auf der anderen Seite: Wie stellt der sich das vor, der Therapeut? Der hat gut reden. Als Freiberufler ohne Internet und Handy? Tolle Idee. Geht aber leider nicht. Denn dann hab ich im null Komma nix keine Arbeit mehr. Ich spüre, wie ich fast ein bisschen wütend werde über Dr. Sprengers scheinbar einfachen Therapievorschlag. Wie soll ich denn für meine Arbeit und meine Filme recherchieren, wenn nicht im Netz? Soll ich etwa wieder in den Lesesaal der Uni-Bibliothek latschen wie in der Studienzeit und mit Mikrofiches nach Fachzeitschriften suchen? Fernleihe oder was? Gibt’s diese riesenhaften Mikrofiche-Lesegeräte überhaupt noch? Nein, ohne Netz und Handy zu arbeiten, das ist ganz und gar und absolut unmöglich für Leute wie mich.
    Das denke ich zumindest, bis mir der Soziologieprofessor und wohl wichtigste Beschleunigungsexperte Hartmut Rosa bei meinem Besuch in der Universität Jena von diesem sympathischen Journalisten von der Süddeutschen Zeitung erzählt. Der wollte das einfach mal ausprobieren und macht gerade einen Selbstversuch: ein halbes Jahr ohne Netz und Handy, ein halbes Jahr digitales Fasten. Klingt spannend, mit dem will ich reden, denke ich mir sofort. Ich frage Rosa nach der Mailadresse des Journalisten und bemerke gar nicht, wie bescheuert meine Frage ist. Rosa hingegen merkt, dass ich auf dem Schlauch stehe, und gibt mir noch kurz eine Chance, es zu kapieren, bevor er erklärt: »Nee, hat er ja nicht. Er ist ja gerade nicht übers Netz erreichbar. Aber eine Festnetznummer kann ich Ihnen geben.«
    Eine Festnetznummer … Habe ich schon ziemlich lange nicht mehr bekommen. Ich merke, wie ich deswegen sofort etwas Geheimnisvolles und irgendwie Konspiratives in diesen Selbstversuch hineininterpretiere. Als ob der Typ sich entschieden hätte, in ein einsames Blockhaus zu ziehen wie der UNA-Bomber und Rosa mir gerade eine geheime Karte gegeben hätte, um dieses Blockhaus zu finden. Dabei hat er mir nur eine stinknormale Festnetztelefonnummer eines Journalisten gegeben, der eben mal ausprobieren will, wie man heute ohne Internet und Handy klarkommt. So wie wir das vor etwas mehr als zehn Jahren noch alle gemacht haben, ohne uns irgendetwas dabei zu denken.
    Â»Alex Rühle heißt der Typ«, gibt mir Rosa mit auf den Weg. »Den kann man am besten abends unter dieser Nummer erreichen, hat er gesagt.«
    Alex Rühle lebt nicht in einem Blockhaus in der Wildnis, sondern mit Familie mitten in München, und auch ansonsten ist er ein ziemlich normaler und sehr lustiger Zeitgenosse. Ich habe ihn gleich am nächsten Tag angerufen und über mehrere Festnetzstationen schließlich in der Redaktion in der Süddeutschen Zeitung erwischt. Wir waren uns, am Telefon auf Anhieb sympathisch. Ich erzählte ihm ein bisschen von meiner Macke und er von seiner. Ich von meiner Suche nach den Ursachen meiner Zeitknappheit. Und er von seiner Internetsucht und dem daraus folgenden Selbstversuch. Es ist ein bisschen so, als hätte ich gerade meinen Bruder im Geiste kennengelernt und würde ihm mein Herz ausschütten. Und das so richtig analog am guten alten Festnetztelefon und nicht über Facebook. Wir verabreden ein Treffen für eine Woche später in München.
    Als ich die Woche darauf im ICE nach München sitze, zwischen iPhone und meinem Laptop hin und her multitaske – es ist erstaunlich, wie wenig Leute heute in einem ICE noch Zeitung oder ein

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