SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
System.
Als Einzelner kann ich zwar aus einem riesigen kollektiven Hamsterrad herausspringen, aber ich kann es nicht anhalten. Ich kann nur herausfallen oder herausspringen, mit ziemlich hohen Kosten für den Einzelnen und seine Familie oder für die Leute, für die er zu sorgen hat, oder im Spiel bleiben. Also, das mit dem Anhalten ist leider nicht so leicht.
Wettlauf gegen die Zeit â Beim Radikalentschleuniger Douglas Tompkins
Wo sind sie also, die wirklichen Alternativen zu unserem Beschleunigungs- und Wachstumssystem? Irgendwo muss es sie doch geben? Seit ich von den Batzlis zurück bin, schwirrt mir diese Frage noch drängender im Kopf herum. »Es gibt kein richtiges Leben im Falschen«, an diesen einfachen und ziemlich radikalen Satz Adornos hat mich der Beschleunigungsforscher Hartmut Rosa ja neulich auch im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Leiden an der Beschleunigung erinnert. Es nutzt also nichts oder zumindest nicht viel: Wenn wir als Einzelne aussteigen oder uns in irgendwelche gemütlichen und langsameren Nischen zurückziehen, werden wir dieses sich selbst antreibende System der permanenten Beschleunigung nicht los.
Nein. Wir brauchen ein neues System oder zumindest ein Modell, bei dem unsere Lebensqualität, unser Wohlbefinden nicht von Beschleunigung und Wachstum abhängen. Aber befriedigende Alternativen sind derzeit kaum in Sicht. Es gibt zwar etliche engagierte kleine Graswurzelgruppen, die jeweils auf ihre Weise an Alternativen experimentieren. Aber eine Alternative, die auch das Zeug dazu hätte, eine kritische Masse zu überzeugen oder zumindest eine kritische GröÃe zu erreichen, habe ich bisher nicht gefunden.
Doch dann, eines Morgens bei der Recherche in meinem Büro, als ich gerade überhaupt nicht damit rechne, stoÃe ich ausgerechnet im Netz, das ich ja sonst so gern verfluche, auf einen Artikel über ein ziemlich radikales Entschleunigungsprojekt in Südamerika. Ich werde sofort neugierig und besorge mir alle Artikel, die ich dazu bekommen kann, um mehr darüber herauszufinden. Ich verschlinge sie förmlich. Klingt genau wie das, wonach ich suche. Und es klingt vor allem ziemlich radikal. Sehr gut, denke ich und beschlieÃe sofort, nicht nur Artikel darüber zu lesen. Um wirklich beurteilen zu können, was da vor sich geht, will ich selbst hinfahren und mir das anschauen.
Ein paar Wochen später sitze ich tatsächlich im Flugzeug. Ich bin auf dem Weg in den Süden Chiles â 42 Grad und zwanzig Minuten südlicher Breite â ans Ende der Welt, in die Wildnis Patagoniens. Dort arbeitet der Amerikaner Douglas Tompkins an einem Entschleunigungsprojekt in wirklich groÃem Stil. Doch es ist gar nicht so leicht, zu ihm zu kommen. Tompkins lebt weit weg von der nächsten Siedlung, auf einem Einsiedlerhof in einem Fjord an der Küste Patagoniens. 1200 Kilometer südlich von Chiles Hauptstadt Santiago. Weiter südlich geht es kaum. Von Puerto Montt, einer kleinen Stadt im Süden Chiles, circa zwanzig Flugstunden von Berlin entfernt, dauert die Reise zu ihm noch einmal zehn Stunden. Zuerst mit dem Bus und einer Fähre an der wunderschönen und menschenleeren Küste Südchiles entlang ins kleine Fischerdörfchen Hornopirén.
Von hier aus geht es erst mal nicht weiter. Denn wie ich von einem Fischer erfahre, der gerade am Hafen von Hornopirén sein Boot festmacht, führt keine StraÃe, kein Pfad, nur der Weg übers Wasser zu dem einsamen Fjord, wo Tompkins lebt. Das hatte ich zwar geahnt, nicht aber, dass es auch keine öffentliche Bootsverbindung dorthin gibt. So stehe ich da, ein bisschen wie bestellt und nicht abgeholt, am Pier von Hornopirén, etwa 35 reine Reisestunden von zu Hause entfernt, und weià erst mal nicht weiter.
Bis ein anderer Fischer nach einer Weile Erbarmen mit mir zu haben scheint und mir erklärt, dass am Nachmittag wohl ein Motorboot käme, das Material und ein paar Leute zum Fiordo Renihué bringen soll, wo Tompkins lebt.
Zwei Stunden später sitze ich tatsächlich mit drei weiteren Passagieren in diesem Boot und brause in der sengenden Sonne die Pazifikküste hinunter, vorbei am Regenwald Patagoniens, an Fjorden mit glasklarem Wasser und schneebedeckten Gipfeln im Hintergrund. Neben uns tauchen immer wieder Delphine auf und hüpfen aus dem Wasser, und auf der Fahrt passieren wir mehrere Seehundbänke. Hier lässt es sich aushalten.
Am
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