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Speichelfaeden in der Buttermilch

Speichelfaeden in der Buttermilch

Titel: Speichelfaeden in der Buttermilch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Stermann , Christoph Grissemann
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in die kleine Wohnung hinein. Dann sprang er aus dem Fenster. Das war 1978. Da er aber die oberste Wohnung eines sehr, sehr hohen Hauses bewohnt hat, kann man leider noch nicht sagen, ob Schuhhirsch beim Sprung aus dem Fenster gestorben ist. Seit mittlerweile 18 Jahren rast Schuhhirsch im freien Fall Stockwerk für Stockwerk dieses unvorstellbar hohen Hauses hinunter. Er kann nichts mehr dagegen tun. Das ist ihm seit drei, vier Jahren klar geworden. In seiner alten Wohnung wohnt längst die alte Schuhhirsch, die laut lachend aus dem Fenster furzt.
    Dazu schreibt Mag. Inge Sämann in ihrer bislang unveröffentlichten Promotionsschrift »Abschwellender Bocksgesang. Kulturkritik im Schweinehälftenkostüm«:
    Ecce Schuhirsch, Ecce Homo. In seiner Unfähigkeit, die Aporien seiner Existenz auszuhalten, ja überhaupt zu artikulieren, wird dieser Grisse- und Stermann'sche Protagonist als tragikomischer Prototyp des spätmodernen Durchschnittsmanns kenntlich, eine Figur, die der eigenen körperlichen und geistigen Impotenz zum Opfer fällt … und fällt und fällt und fällt. Seine Welterfahrung ist – wie die vieler seiner Leidensgenossen – geprägt von der als unüberbrückbar erlebten Diskrepanz zwischen Ich (»Schuhhirsch«) und Nicht-Ich (»Suppe«), zwischen Hoffnung und Wirklichkeit, Intention und Ergebnis. Gleich zu Beginn des Textes wird Schuhhirschs Versagen, dieses existenzielle Scheitern, sprachlich manifest – und zwar in jenem ohnmächtigen Aufschrei, welcher der Trennung der Ehepartner vorausgeht und diese schließlich besiegelt.
    Anders als seinen etwaigen literarischen Vorläufern – Albert Camus' »Fremder« ist hier nur einer von vielen – will es Schuhhirsch nicht mehr gelingen, seine »transzendentale Obdachlosigkeit« affirmativ umzudeuten und aus der Absurdität seiner Existenz neue lebensbejahende Energien zu ziehen. Er ist der resignierte Mensch, der Mensch nach der Revolte, ein endloser Untergeher, dem nichts mehr glückt, nicht einmal der eigene Suizid. Er ist der Mensch der Posthistoire.
    Doch nun vom »Ende der Geschichte« zum Ende dieser Geschichte: Diese Geschichte endet mit einem Furz, vielmehr muss man sagen, sie endet nicht , kann nicht enden, weil Furz und Sturz gleichermaßen über ihr Ende hinausreichen. Das Motiv des endlosen Sturzes, wie auch des nicht-enden-wollenden Furzes evoziert den Gedanken der »ewigen Wiederkunft.« Freilich brechen die Autoren an entscheidender Stelle mit der bejahenden Emphase der nietzscheanischen Vorlage. Bei ihnen wird der Lebenskreis, das Zyklische quasi gewaltsam aufgebogen in die Vertikale und somit transformiert in einen endlosen Vektorpfeil ins Bodenlose. Vor diesem Hintergrund nimmt sich der Furz der Ex-Frau in der Tat wie ein verzerrtes Echo des Hohnlachens der zynischen Vernunft aus, wobei uns, den Lesern dieses Lachen im Halse steckenbleiben muss: Wir können uns nicht entleeren, erleichtern wie die alte Schuhhirsch, wir müssen – wie der scheiternde Selbstmörder – weiterleben, weiterstürzen, nicht wissend, ob am unteren Ende des Hochhauses eine mitfühlende Seele das Auffangkissen einer neuen Ethik für uns bereit gelegt hat.
    Grissemanns 40. Geburtstag
    Der rothaarige Nahostösterreicher mit dem Hang zum Klettern – er hatte hinter seiner Scheißangeber-Protz-Kotz-Villa einen eigenen kleinen Hang zum Klettern. Dieses kleine Frauenzimmer Grissemann war zu seinem 40. Geburtstag schick und aufdringlich gekleidet, mit amerikanischem Siedlerkleid aus Exilkuba und Trockenhaube gegen die Alkoholsucht. Die Protz-Kotz-Villa hatte er geschmückt mit Wildlederhandschuhen und halbtoten Rauhhaardackeln. Er selbst fühlte sich wohl oder übel, er konnte es schon seit Jahren nicht mehr unterscheiden. Er brach das Brot und wischte alles auf mit einer Füllfederpatrone. Als das Aufwischen mit der Füllfederpatrone nicht so richtig klappen wollte, stellte er einfach ein Paar Schuhe auf das Erbrochene, dass man es nicht mehr sehen konnte. In seiner Protz-Kotz-Villa standen 54 Paar Schuhe auf Erbrochenem. Das war also die Ausgangsposition an Grissemanns 40. Geburtstag.
    Stermanns 60. Geburtstag
    Der sehr rosinenhafte Ekel- und Angstdeutsche Stermann war an seinem 60. Geburtstag sehr schlecht drauf und fürchtete sich vor sich selbst. Denn gestern, als er gut drauf gewesen war, hatte er sechsmal versucht, sich aufzuhängen. Heute hatte er also schlechte Laune. Wie in Trance beobachtete er sich dabei, wie er zuerst einen Pflock durch seine

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