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Speichelfaeden in der Buttermilch

Speichelfaeden in der Buttermilch

Titel: Speichelfaeden in der Buttermilch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Stermann , Christoph Grissemann
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wie Kind. Er füllte Sozialversicherungsformulare aus und flog mit Lufthansa nach Bumsland. Er sah wie ein Adler, hatte aber eine Brille mit 16 Kalorien. Alles war so lächerlich. Seine Mutter und ihr lächerlicher Arbeiter- und Angestellten-Busen, sie behauptete: »Pocke, dein Vater wählte Freitod.« Dabei wusste Pocke genau, dass er während der Arbeit gestorben war und nicht als er frei hatte. Sein Vater war Dildo-Bauer. Ein durch und durch lächerlicher Beruf, aber er nährte Pockes lächerliche Sexualphantasien, die er im Bumsland verwirklichte. Pocke war ein dünner Bub, er wog nur 14 Kalorien, zwei weniger als seine Brille. Seine Mutter hatte eine lächerliche Krankheit. Sie war binnenkrank, ihr wurde schlecht an Land, sie konnte nur auf See leben. Das Dildo-Geschäft deflorierte und Pocke trat in die Fußstapfen seines Vaters. Einmal im Schnee … nicht wirklich. Als er einmal eine Tasse Kaffee trank, explodierte sein Herz. Der Optiker konnte nichts mehr für ihn tun.
    Und so sieht man heute, 20 Jahre später, Pockes Mutter noch immer ihren Arbeiter- und Angestellten-Busen aus dem gewaltigen Fenster hängen und ihren zerplatzten Sohn rufen: »Brotzeit Pocke!«
    Henry
    Henry war Hochseefischer, aber einer von der modernen Sorte. Nicht so einer mit Ozean und Wasser und Wind und Backbord und Netz und so, nein, einfach zuhause. In der Küche am Tisch. In seiner Freizeit war Henry Großwildjäger, aber auch hier einer von der schlauen Sorte. Nicht mit Panthern, Löwen, Krokodilen, Afrika und Schießgewehr, nein, einfach zuhause. In der Küche am Tisch. In seinem Pass steht unter »besondere Kennzeichen: Hufeisen im Gesicht«. Ein Pferd hatte ihn getreten, mitten in die Fresse, aber ohne Koppel, Wiehern, Schmerzen und Galopp, nein, einfach zuhause. In der Küche am Tisch. Vorgestern ist Henry mit dem Flugzeug abgestürzt, aber echt. Mit Feuer und Angst und Schreien und tot. Jetzt sitzt keiner mehr einfach zuhause. In seiner Küche am Tisch. Tja Henry, im Leben läuft's oft Scheiße, wenn man die eigenen vier Wände verlässt.
    Dirk Stermann und Christoph Grissemann haben sich – entgegen der öffentlichen Wahrnehmung – nicht aus dem dialektischen Kampf zwischen Kunst und Kommerz zurückgezogen, sondern suchen die literaturwissenschaftliche Debatte, sind bereit, ihre Arbeit einer fachlichen Prüfung zu unterziehen. Die Literaturwissenschaftlerin Mag. Inge Sämann stellt freundlicherweise Ausschnitte aus ihrer bislang unveröffentlichten Promotionsschrift »Abschwellender Bocksgesang. Kulturkritik im Schweinehälftenkostüm« zur Verfügung. Zu »Henry« schreibt sie:
    Auf den ersten Blick zählt diese frühe Prosa-Miniatur zu den unscheinbareren, weniger exaltierten Texten der beiden Autoren, verzichtet sie doch fast gänzlich auf die sonst übliche grelle Metaphorik und auf jene manieristische Form der Wortspielerei, die ansonsten zu den konstitutiven Merkmalen des Grisse- und Stermann'schen Frühwerks zählt. Hier haben wir es mit einer überraschend wenig verspielten, einer Parabel von nachgerade existenzialistischer Schlichtheit zu tun. Ihr tieferer Sinn erschließt sich im Zweifel erst bei einer zweiten oder gar erst bei der dritten Lektüre. Dann aber beginnt sich die unheimliche Suggestivkraft der Figur des Henry zusehens des Lesers zu bemächtigen und lässt ihn den heroischen Zug in dessen stoischem Widerstand gegen das Nützlichkeitspostulat des neoliberalen Werk- und Freizeittäters erkennen. Dieser Henry hat sich aus den Tätigkeiten (»Hochseefischerei«) und Tätlichkeiten (»Großwildjagd«) der spätmodernen Welt- und Wirtschaftsordnung zurückgezogen und an seinem Küchentisch ein, wenn auch – wie der Ausgang der Geschichte zeigt – nur vermeintlich uneinnehmbares Refugium wider die sekundäre Welt gefunden. Von der Auslotung eines existenziellen Problems, von der unerbittlichen Konsequenz des Erzählablaufs, von der gleichzeitig gegenständlich und opaken Symbolik und von der bei aller Sparsamkeit und Disziplin ungemein suggestiven Sprache dieser Erzählung ließe sich eine direkte Linie von Henry über Kafkas »K.« bis ins 19. Jahrhundert zu Melvilles »Bartleby« verfolgen. Dieser Henry ist das zu spät gereifte oder zu früh gepflückte Früchtchen am Stammbaum der heldenhaften Verweigerer und Versager. Ein Mann, der seine Ruhe haben will, der keine Abenteuer erleben mag, der sich – wie sein literarischer Ahnherr Bartleby – den Erwerbs- und Erlebniszwängen der Außenwelt

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