Spektrum
Existenz maximal in die Länge zu ziehen. Die Welt zu erschließen dient nur der Gewährleistung der Sicherheit. Ich stelle dir eine andere Frage: Wozu braucht man den Verstand? Nicht den primitiven, tierischen Instinkt, sondern den Verstand? Ich hoffe, du bist in der Lage, diese beiden Begriffe auseinanderzuhalten.«
»Das bin ich«, beteuerte Martin. »Den Verstand braucht man für die Sicherheit, die du angeführt hast. Ein Wesen, das sich abstrakte Fragen stellen kann, hat weitaus größere Chancen zu überleben.«
»Nur langfristig. Gut, nehmen wir einmal an, eine Kette von Zufällen habe den Instinkt um den Verstand ergänzt. Aber die meisten der sogenannten intelligenten Wesen stört der Verstand letzten Endes. Ihnen reicht das instinktive Handeln völlig aus. Damit führen sie einfache Arbeiten aus, kommen den Anforderungen der sozialen Gemeinschaft nach, empfinden Vergnügen beim Essen, bei der Fortpflanzung und bei körperlichen Betätigungen anderer Art. Tiere leben vortrefflich in Herden, freuen sich ihrer Existenz und leiden nicht unter den negativen Aspekten des Verstandes.«
Martin lachte unfroh auf. »Stimmt, du hast recht. Ein großer Teil der Menschheit würde hervorragend mit rein instinktivem Handeln zurande kommen. Ihr Verstand schlummert. Ich nehme an, bei den meisten humanoiden Zivilisationen ist es nicht anders. Aber was folgt daraus?«
»Wozu braucht man den Verstand?«
»Als Mittel des Überlebens …«
»Wozu braucht man den Verstand?«, blaffte Pawlik.
»Um idiotische Fragen zu stellen!«, brüllte Martin. »Um sich mit Fragen über den Sinn des Lebens zu quälen! Um den Tod zu fürchten! Um sich Gott auszudenken!«
»Schon besser«, befand die Amöbe sanft. »Wenn für den Instinkt das erste Signalsystem ausreicht, dann schafft der Verstand, der mit abstrakten Begriffen operieren muss, ein zweites, nämlich die Sprache. Es ist völlig belanglos, auf welche Weise wir unsere Gedanken artikulieren, ob nun durch Luftschwingungen, elektrische Impulse oder Lichtmuster auf der Haut. Die Information, die von ihrem Träger abgelöst werden kann, wird zum wichtigsten Werkzeug des Verstandes. Das Mittel zur Erschließung der Welt – und das Mittel zur Manipulation der Welt. Gehen wir jetzt noch einen Schritt weiter, Martin. Der Verstand … Und weiter? Was ist die dritte Stufe nach dem Instinkt und dem Verstand? Welches Signalsystem eignet sich ein meta-intelligentes Wesen an? Bleibt die Grenze zwischen Gedanken und Verhalten, zwischen Information und Handlung erhalten? Das Wesen über dem Wesen – was ist das? Bereits Gott? Oder noch ein Mensch? Wie viele Stufen muss das Leben erklimmen, damit wir uns endgültig aus der dumpfen Materie herauslösen? Und was zwingt uns, gegen die Barrieren der Homöostase anzukämpfen, indem wir zunächst überflüssige Eigenschaften erwerben? Erst die Instinkte, dann den Verstand, dann … dann etwas, für das es noch keine Bezeichnung gibt. Was reißt uns aus unserer tierischen Ruhe, was treibt uns weiter? In wessen Händen liegen Zuckerbrot und Peitsche? Wer ist er, der Große Experimentator, der unsere Ruhe stört, der Schöpfer und Zerstörer? Gott? Oder nur ein metaintelligentes Wesen, das an der gleichen schrecklichen Gier krankt wie wir? Schafft dieser Verstand Glück? Schafft dieser Metaverstand Glück? Wie viele Stufen hat die Leiter, die vom Instinkt hinaufführt? Tiere sind nicht erpicht darauf, Verstand zu erwerben. Das sind wir, die versuchen, sie aus ihren zärtlichen und liebevollen Träumen zu wecken und ihnen unsere Leiden des Verstands zuteil werden zu lassen. Die intelligenten Wesen indes drängen nicht zum nächsten Schritt. In uns lebt noch die uralte Angst vor dem Erwerb des Verstands, diesem unerwarteten und unerbetenen Geschenk von oben. Wir leben beschaulich und gut versorgt auf dem jetzigen Niveau der Erschließung der Welt. Wir können auf ein Wissen verzichten, das wir uns nicht einmal vorzustellen vermögen.«
Die Amöbe verstummte. Dann stieß sie ein Gelächter aus. »Uns locken die süßen Früchte des Himmels, die absolute Sicherheit, das ewige Leben, das große Wissen. Es ist nur ein einziger Schritt weiter vom Verstand aus nach oben! Aber wir wollen unsere Ruhe nicht verlieren. Wir argwöhnen – und das mit gutem Grund –, dass uns eine Meta-Intelligenz neuen Kummer bringt, so wie der Verstand uns einst Sehnsucht und Leid gebracht hat. Und während wir über die Oberfläche der schmutzigen Planetenkugeln krabbeln und
Weitere Kostenlose Bücher