Spektrum
uns nur auf unseren unzureichenden Verstand verlassen, versuchen wir den paradiesischen Baum der Erkenntnis zu züchten. Alles zu bekommen, ohne etwas Neues zu erwerben. Zu Göttern zu werden und dabei Menschen zu bleiben. Und irgendwann wird das, was über uns existiert, das Zuckerbrot wegstecken und die Peitsche herausholen. Dann wird der Himmel brennen, werden die Ozeane brodeln und der Verstand nicht ausreichen, um das Überleben zu gewährleisten … Wofür hat euer Gott die Menschheit mit der Sintflut bestraft? Für ihre Vermessenheit? Nein! Für ihr Zaudern! Für die Ignoranz, die es gegenüber dem erhaltenen Verstand an den Tag legte, für den Triumph des Instinkts. Für den Versuch, ein intelligentes Tier zu bleiben. Die Geschenke der Götter darf man nicht zurückweisen, Martin! Und wenn der Verstand sich abermals eine lauschige Nische geschaffen hat, um dort zu verweilen – dann erwartet uns neues Unglück. Wir sind dazu verdammt, höher und höher zu streben, uns aus dem Schmutz zum Himmel zu erheben!«
»Aber … die Schließer …«, setzte Martin an.
»So verlockend die Geschenke der Schließer auch sind, sie verführen uns dazu innezuhalten. Sie geben intelligenten Wesen das, was einem Meta-Verstand vorbehalten sein sollte: die Kontrolle über den Raum, über das Bewusstsein, über Leben und Tod. Als intelligentes Wesen, das mit sich zufrieden ist und keine Komplexe hat, würde ich die Geschenke der Schließer mit Freude annehmen und meine Entwicklung einstellen. Aber wie sieht die Meta-Intelligenz das? Lockt sie uns erneut mit Zuckerbrot, um dessentwillen wir dann die Geschenke der Schließer verschmähen? Oder holt sie die Peitsche heraus?«
Die Amöbe richtete sich auf und schüttelte sich wie ein nasser Hund. »Das sind die Vorwürfe, die wir den Schließern machen, die der Galaxis Frieden und Wohlstand gebracht haben«, sagte sie. »Es sind höchst konstruierte und haltlose Vorwürfe. Aber wir sind bereit, das Risiko einzugehen und die Schließer in ihrer Heimat zu besuchen.«
Martin blieb noch ein Weilchen sitzen, den Blick auf die groteske Figur gerichtet, die mit unvorstellbarer Grazie davonkroch. An der tosenden Wasserwand streckte die Amöbe eine Pseudohand aus und winkte ihm zu, bevor sie in die blaue Substanz eintauchte. Es dunkelte bereits, und der Bessarianer geriet augenblicks außer Sicht.
»Zuckerbrot und Peitsche«, grummelte Martin. »Warum muss die Wahl immer so langweilig sein? Süßes mag ich sowieso nicht.«
Er verstaute die Kognakflasche in seiner Tasche und betrat die Holzpyramide. Das in den ersten Stock hinaufführende Geflecht von Treppen – Rampen, spiralförmige, vertikale und ganz gewöhnliche Treppen – verwandelte das Erdgeschoss in das Bühnenbild für eine Fernsehshow oder eine Ausstellung zu den Errungenschaften der Treppenbaukunst. Martin gelangte über eine schräge Rampe in den ersten Stock und blieb unschlüssig vorm Eingang in die ihm zugewiesene Kammer stehen. Auf dem Boden lag eine weiche, mit getrockneten Algen gestopfte Matratze, daneben stapelten sich drei Decken, stand eine Kanne mit Wasser bereit, leuchtete sanft eine gläserne Kugel, denn eine Zentralbeleuchtung gab es in der Pyramide nicht. Türen fehlten im Innern der Pyramide ebenfalls, der Zugang zu seiner Kammer war mit einer weiteren Decke verhangen, die am Rahmen befestigt war.
Martin spürte sofort, wie ihn Einsamkeit packte.
Deshalb ging er zum Eingang der zweiten Kammer. Unter der Decke am Eingang drang Licht nach draußen, vermutlich schlief Irotschka Poluschkina also noch nicht.
Mit einem »Darf ich reinkommen?« auf sich aufmerksam zu machen, schien ihm ungeschickt wie nichts sonst – weshalb Martin nur hüstelte.
»Ich schlafe noch nicht«, sagte Irina hinter dem Vorhang leise.
Als er eintrat, fügte sie hinzu: »Ich habe auf dich gewartet.«
Die junge Frau saß in eine Decke gehüllt auf dem Bett. Martin setzte sich neben ihr auf den Fußboden und holte sein Fläschchen aus der Tasche. »Möchtest du?«
Irina nickte.
»Ich fliege mit dir mit«, sagte Martin, nachdem sie einen Schluck genommen hatte. »Ich habe nur ein Leben, und das gefällt mir. Aber ich fliege mit dir, denn es gibt wichtigere Dinge als das Leben.«
Schweigend betrachtete Irina ihn, während sie sich in die Decke mummelte. Mit überraschender Klarheit ging Martin auf, dass Irotschka unter dem Laken völlig nackt war. Und dies keinesfalls, weil sie gern nackt auf einer blanken Matratze schlief.
»Komm
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