Spektrum
aufmerksam registriert hatte.
Es war von Vorteil, im Blut, mitgegeben von der Natur und ererbt von den Vorfahren, ein hohes Niveau am Enzym Alkoholdehydrogenase zu haben. Anders ausgedrückt: Man betrank sich nicht bis zum Gedächtnisverlust.
Nebenbei bemerkt, durfte sich auch Juri Sergejewitsch einer soliden Alkoholverträglichkeit rühmen. Auch er hatte nichts verlautbaren lassen, abgesehen von dem, was er zu sagen beabsichtigte. Er hatte sich nicht entlocken lassen, warum der Geheimdienst ausgerechnet auf Martin verfallen war. Und er hatte nicht ausgeplaudert, mit welch ausgeklügeltem Schritt Martin die Schließer überzeugen könnte.
Oder war es im Grunde gar nicht nötig, sie zu überzeugen? Ging es eigentlich um etwas ganz anderes?
Martin seufzte. Zu spekulieren brachte gegenwärtig nichts. Zunächst müsste er Irinka finden, um sich mit ihr zu beratschlagen.
Dazu müsste er durchs Tor gehen. Trotz der Kopfschmerzen und der desolaten Grundstimmung.
»Es scheint uns nur, als lebten wir ununterbrochen«, sagte Martin, als er in dem Sessel vor dem Schließer Platz nahm. »Ein Photon vermeint vielleicht auch, nur ein Teil zu sein, wohingegen wir wissen, dass es bereits eine Welle ist.«
»Interessant«, entschied der Schließer und rutschte hin und her. Es war ein kleiner Schließer, entweder ein Kind oder von Natur aus kleingewachsen. Aufgrund des munteren Funkelns in seinen Augen neigte Martin der Annahme zu, der Schließer sei noch jung.
»Bin ich das, der da im Sandkasten buddelt, eifrig damit beschäftigt, kleine Küchlein zu backen?«, fuhr Martin fort. »Bin ich das, der da an einem Haken herumfummelt, erstmals einer Frau den BH abnimmt und zu früh zum Orgasmus kommt? Bin ich das, der da nächtens büffelt, seinem Kopf ein Wissen einbimst, das er nie im Leben brauchen wird? Bin ich das, der jetzt hier vor dir sitzt? Die Atome meines Körpers wurden schon mehrfach ausgetauscht, alles, was ich glaubte, hat sich als unglaubwürdig erwiesen, das, worüber ich lachte, als das einzig Wahre. Alles habe ich vergessen, an alles erinnere ich mich … Was ist dieses Ich? Ein Teil oder eine Welle? Was steckt noch in mir von dem Jungen mit lockigem Haar, der mich auf alten Fotografien von unten herauf anschaut? Erkennt mich der Schulfreund noch? Erinnert sich das Mädchen aus der Parallelklasse noch an meine Lippen? Gibt es noch etwas, über das ich mit meinen Lehrern sprechen könnte? Als Fünfjähriger habe ich mehr Ähnlichkeit mit jedem beliebigen fünfjährigen Kind als mit mir! Als Achtzehnjähriger denke ich wie jeder achtzehnjährige Bursche an Genitalien! Als Fünfundzwanzigjähriger vermeine ich, das Leben sei ewig, habe ich noch nicht die Luft fremder Welten geatmet. Warum glauben wir also, uns sei nur ein einziges, ein ununterbrochenes Leben gegeben? Das ist die perfideste Falle im Leben: unsere Überzeugung, wir seien noch nicht gestorben! Wir alle sterben viele Mal. Der Junge mit den unschuldigen Augen, der Jüngling, der die Nacht durchfeiert, selbst dieser, der erwachsene Martin, der für alles im Leben ein Etikett und einen Platz gefunden hat – sie alle sind tot. Sie alle sind in mir beerdigt, aufgegessen und verdaut, sie alle habe ich als Schlacke vergessener Illusionen wieder ausgeschieden. Der kleine Junge wollte Detektiv werden – aber haben seine Träume auch nur die geringste Ähnlichkeit mit meinem heutigen Leben? Der Jüngling begehrte die Liebe – aber wollte er im Grunde nicht nur Sex? Der erwachsene Mann plante sein Leben bis zum Tod – aber sind diese Pläne wirklich in Erfüllung gegangen? Ich bin wieder ein anderer … Ich mutiere in jedem Moment zu einem anderen, eine Kette von Grabsteinen schlängelt sich hinter mir zurück in die Vergangenheit – und nirgends gibt es den Planeten Bibliothek, der genug Platz böte, damit jeder verstorbene Martin einen eigenen Obelisken bekommt. Das muss so sein, Schließer. Das ist unvermeidlich. Trostlos und unfruchtbar wäre die Welt der weisen Alten, karg und pragmatisch die der Erwachsenen, unsinnig und dumm die der ewigen Kinder. Trauer und Schuldgefühl ruft ein Kind hervor, das seine Kindheit ablehnt, den Ernst des Lebens herbeisehnt, in großen Sprüngen der Reife entgegeneilt. Trauer und Schuldgefühl … als zeige sich unsere Welt zu streng für die Kindheit. Bestürzung und Mitleid ruft ein Erwachsener hervor, der mit Kindern um die Wette tollt und sich mit vierzig Jahren mit Heavy Metal zudröhnt. Bestürzung und Mitleid
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