Spektrum
… als zeige sich unsere Welt unwürdig, heranzureifen. Jugend vorgaukelnde Alte, Weisheit vortäuschende Jünglinge – all dies ist ein Vorwurf an die Welt. An eine allzu komplizierte, eine allzu strenge Welt. Eine Welt, die den Tod nicht kennt. Eine Welt, die uns in einem fort beerdigt. Offerierte man mir den sehnlichsten Traum der Menschheit, stellte man mir Unsterblichkeit in Aussicht, sagte dazu aber: ›Der Preis dafür ist die Unveränderlichkeit‹ – was würde ich darauf antworten? Wenn ich in der sich mir darbietenden Ewigkeit verdammt wäre, unverändert zu bleiben? Stets die gleiche Musik zu hören? Die gleichen Bücher zu lieben? Die gleichen Frauen zu kennen? Mit den ewig gleichen Freunden über die ewig gleichen Themen zu diskutieren? Stets die gleichen Gedanken zu denken? Geschmack und Gewohnheiten nicht mehr zu ändern? Ich kenne meine Antwort nicht, Schließer. Doch scheint mir dieser Preis exorbitant. Ein schrecklicher Preis, der die Ewigkeit um ein Vielfaches übersteigt. Unser Unglück besteht darin, dass wir gleich einem Photon durch einen Dualismus bestimmt sind. Wir sind sowohl ein Teilchen als auch eine Welle … Die Flammenzunge des Bewusstseins, die auf den Schwerölwellen der Zeit tanzt. Und es liegt nicht in unserer Kraft, eine der Komponenten zurückzuweisen, ganz wie ein Photon nicht stehenbleiben oder eine seiner Komponenten verlieren kann. Darin drückt sich unsere Tragödie, unser Teufelskreis aus. Wir wollen nicht sterben, aber wir können nicht anhalten, denn der Stillstand ist nur eine andere Form des Todes. Der Glaube spricht vom ewigen Leben … doch wessen Leben ist da gemeint? Meins, der ich ein kleiner Junge war, der in höchstem Maße rein und unschuldig gewesen sein mochte? Meins, der ich ein Jüngling war, romantisch und naiv? Meins, der ich pragmatisch und sachlich bin? Meins, den Altersschwachsinn und Alzheimer brachen? Denn all das bin ich … Wie also erstehe ich in der Ewigkeit auf? Doch wohl nicht als hilfloser und schwachsinniger Mann? Aber wenn ich mit gesundem Geist und solidem Gedächtnis fortlebe, wessen hat sich dann dieser tattrige Alte schuldig gemacht? Und wenn jedes Ich aufersteht, reicht dann der Platz im Paradies auch nur für mich allein?«
Einen Moment lang verstummte Martin, da er insgeheim hoffte, der Schließer würde etwas sagen.
Doch Schließer geben niemals eine Antwort. Der kleine Schließer rutschte in seinem Sessel hin und her, sah Martin aufmerksam an und schwieg.
»Nur die Illusion des Kontinuierlichen gibt uns die Kraft zu leben und diejenigen von uns nicht zu bemerken, die vor uns gleich Schatten auf den Boden fallen«, fuhr Martin fort. »Bei jedem Schritt, bei jedem Atemzug. Wir sterben, und wir erwachen zu neuem Leben, wir überlassen es den Toten, die Leichen zu begraben. Wir gehen weiter, in dem Wissen, dass wir ein Teil sind, und in der Hoffnung, eine Welle zu sein. Wir haben keine Wahl, so wie dem Photon, das von Stern zu Stern fliegt, keine Wahl bleibt. Und vielleicht sollten wir dankbar sein, dass wir keine Wahl treffen können.«
Martin verfiel in Schweigen.
»Du hast meine Einsamkeit und meine Trauer vertrieben, Wanderer. Tritt durch das Große Tor und setze deinen Weg fort.«
Martin nickte und blieb sitzen.
»Ein Photon, das von einer Supernova ausgestoßen wurde, könnte vermeinen, ein Teilchen zu sein. Ich habe mich nie dafür interessiert, ob Photonen denken können«, sagte der Schließer und lächelte, dabei eine glatte weiße Front von Zähnen entblößend. »Aber auch ein Photon beendet irgendwann seinen Weg. Ob nun auf der Netzhaut deines Auges oder in der Photosphäre eines anderen Sterns – das spielt keine Rolle. So oder so verschwände es nicht spurlos.«
Martin nickte und stand auf.
»Dein Vergleich hat mir gefallen«, sagte der Schließer. »Vergiss niemals, dass du nicht nur ein Teilchen, sondern auch eine Welle bist.«
»Schließer!«, rief Martin entgeistert aus.
Der Schließer verstummte auch jetzt nicht und erhob sich aus seinem Sessel. Er stellte sich als sehr klein heraus, reichte Martin nur bis zur Schulter. Ein zotteliges, kurzbeiniges Wesen mit unergründlichen dunklen Augen. »Die perfideste Falle im Leben ist die Gewissheit, irgendwann zu sterben«, sagte der Schließer, den Blick unverwandt auf Martin gerichtet. »Wie leicht und einfach wäre es zu leben, wenn du wüsstest, dass du sterblich bist! Welch Welle trüge einen davon, wäre man nur Elementarteilchen, das durch das ewige
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