Spektrum
Erde.«
»Das würde mir nichts ausmachen«, versicherte das Mädchen. »Daran würde ich mich gewöhnen. Außerdem könnte ich neue Instinkte ausbilden.«
»Verlierst du deinen Verstand denn unweigerlich?«
»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht«, gab das Mädchen zu. »Wenn bei euch alle Verstand besitzen … Nein, ich würde ihn nicht unweigerlich verlieren. Aber ist das nicht sehr schwer?«
»Ein wahrer Mensch zu sein, ist immer schwer«, erwiderte Martin, der erneut Zuflucht zu der unleugbaren Weisheit von Zitaten nahm. »Möchtest du deinen Verstand denn unbedingt aufgeben?«
»Das tut nicht weh«, behauptete das Mädchen gleichmütig. »Früher oder später passiert das allen. Wenn ich jetzt daran denke, mein ganzes Leben mit Verstand zu verbringen, erschreckt mich das. Wie soll das gehen? Leben und denken? Immer, bis zum Tod? Willst du wirklich nicht, dass alles einfach und leicht ist? Dass du dich nicht mehr sorgen, nicht mehr zweifeln, ängstigen, verzagen, schwanken und bereuen musst?«
»Dergleichen habe ich schon einmal von einem Alten gehört«, sagte Martin. »Er ist im Fernsehen aufgetreten, in einer Show … in der zur Belustigung des Publikums allerlei Sonderlinge eingeladen werden …«
»Solche Shows gibt es bei uns nicht«, berichtete das Mädchen. »Wir haben keine erwachsenen Sonderlinge. Entschuldige, ich habe dich unterbrochen.«
»Dieser Alte hat behauptet, alles Leid auf der Erde rühre von der Liebe her«, fuhr Martin fort. »Du weißt doch, was Liebe ist, oder?«
»Ja. Das ist ein aufwühlender emotionaler Zustand, eine der Eigenschaften des Verstands. Ich liebe einen Jungen.«
»Wie schön.« Martin lächelte. »Der Alte hat allerlei Übel aufgezählt, die aus der Liebe resultieren. Er hat gesagt, die Liebe zwinge die Menschen dazu, sich seltsam und unlogisch zu verhalten, erst die Ruhe in ihrem Leben, ja, manchmal sogar das Leben selbst aufzugeben. Er hat empfohlen, niemals jemanden zu lieben. Und auf Fortpflanzung zu verzichten oder sich künstlich fortzupflanzen. Er hat berichtet, wie er einmal versuchte, Sex zu haben …«
»Ich weiß, was Sex ist«, sagte das Mädchen unerschüttert.
»Aha«, grinste Martin. »Ihm jedenfalls hat auch der Sex nicht gefallen … Ein komischer Alter. Während er sprach, haben manche seiner Worte sogar logisch geklungen. Denn die Menschen leiden wirklich häufig aus Liebe … wenn man es von außen betrachtet. Ich habe ihn mir angesehen und darüber gegrübelt, in welchem Punkt er sich täuscht. Denn es kommt ja vor, dass ein Mensch Unrecht hat, wir aber nicht auf Anhieb wissen, in welchem Punkt genau. Hätte er darauf hinweisen müssen, dass die Liebe zugleich auch eine Freude ist? Aber man darf die Freude nicht als Gegengewicht zum Kummer anführen! Schließlich geht es nicht um eine Waagschale, auf der die Vor– und die Nachteile der Liebe abgewogen werden. Am Ende ist mir aufgegangen, dass dieser unglückliche Alte das Entscheidende nicht begreift. Wenn du aus Liebe leidest, ist das ein lichtes Leiden. Es ist auch eine Freude, selbst wenn die Liebe unerwidert bleibt, selbst wenn sie dir nur Trauer und Kummer einträgt. Das Entscheidende ist, dass es Liebe ist. Und dieser Alte … vielleicht stimmte mit seiner DNS etwas nicht, ich weiß es nicht. Oder es fehlte ihm überhaupt an Gefühlen, sieht man einmal von Gaumenfreuden und dem Vergnügen eines weichen Sofas unterm Hintern ab. Kurzum, es war ihm so wenig zu erklären, wie einem Blinden die Farben des Regenbogens. So ist es mit dem Verstand, Mädchen. Ohne Frage ist er heimtückisch und schafft viel Leiden. Aber der Verstand stellt ein Glück an sich dar. Verstehen kann das nur, wer über ihn verfügt.«
»Dieser Alte hat wie unsere Erwachsenen gesprochen«, bemerkte das Mädchen. »Vielleicht gibt es bei euch Menschen, die aufgehört haben zu denken, denen ihre Instinkte reichen.«
»Vielleicht«, stimmte Martin ihr zu.
»Liebst du jemanden?«
Ein seltsames Gespräch. Ein kleines Restaurant auf einem fremden Planeten, mit Gästen, die so taten, als bemerkten sie Martin nicht. Sein Gegenüber war ein außerirdisches Vogelkind. Das Thema waren der Verstand und die Liebe. Das, worum es stets ging …
»Ich habe jemanden geliebt«, erklärte Martin offen. »Anscheinend habe ich das. Aber jetzt …« Er zögerte. Dann fuhr er ehrlich fort: »Ich weiß es nicht.«
»Also liebst du«, entschied das Mädchen.
Martin lächelte.
»Schläfst du tagsüber?«
»In den letzten
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