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Spektrum

Spektrum

Titel: Spektrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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nicht mehr denken.«
    Martin nickte. Erschaudernd ließ er sich das Gehörte durch den Kopf gehen. »Was heißt das, er kann nicht mehr denken?«
    »Er kann nicht denken heißt, er kann nicht denken.«
    »Und du denkst?«
    »Selbstverständlich.«
    »Und die anderen Kinder?«
    »Auch.«
    »Und die Erwachsenen?«
    Das Mädchen zwitscherte. Offenbar war das die hiesige Variante eines Lachens. »Entschuldige. Ich dachte, das wüsstest du. Natürlich nicht.«
    »Bist du deshalb weggerannt? Als du erfahren hast, dass ich ein Erwachsener bin?«
    »Ja. Ich war verwirrt. Ich habe nicht gleich begriffen, dass du ein Fremdplanetarier bist und selbst als Erwachsener denken kannst.«
    »Aber eure Erwachsenen sprechen«, bemerkte Martin. »Sie arbeiten, gehen durchs Tor, bedienen Maschinen …«
    »Das können sie. Aber …« Das Mädchen verstummte.
    »Das ist Instinkt?«, schlug Martin vor.
    »Ja. Richtig. Sie haben etwas gelernt. Sie waren Kinder und konnten denken. Sie haben alles erfahren, was sie fürs Leben brauchen. Dann haben sie aufgehört zu denken. Denken strengt an. Denken schmerzt und ist gefährlich. Wenn es auf der Welt keine unbekannten Gefahren gibt, brauchst du überhaupt nicht zudenken.«
    »Ist der Mörder … deshalb verrückt geworden?«
    »Er ist nicht verrückt, sondern klug geworden«, erklärte das Mädchen geduldig. »Er hat ein neues Wesen getroffen, dich. In seiner Kindheit ist er nicht auf eine Begegnung mit einem Fremdling vorbereitet worden. Du hast dich wie ein Schealier verhalten, bist aber keiner. Sein Instinkt hat nicht gereicht, und er musste erneut denken. Sein Verstand hat ihn geschockt. Danach ist er krank geworden. Er konnte das Neue nicht begreifen und hat sich wie ein Urschealier verhalten, indem er die Schwachen umbrachte, um sich zu retten. Er tut mir sehr leid.«
    »Wie hören die Schealier denn auf, vernünftige Wesen zu sein?«, fragte Martin. »Das würde ich gern wissen.«
    Das Mädchen sah ihn unverwandt an.
    »Entschuldige, aber erst jetzt glaube ich, dass du Verstand hast. Du begreifst etwas Neues auf Anhieb. Verzeih mir, dass ich Zweifel hatte.«
    »Schon gut. Verrätst du mir, wie die Schealier aufhören, vernünftige Wesen zu sein?«
    »Ja. Aber nimmst du mich denn nun in deinen Schwarm auf?«
    »Ich kann dich doch nicht allein lassen, oder? Dann würdest du sterben.«
    »Ich würde versuchen zu überleben. Ich bin klug, ich würde mir etwas einfallen lassen. Vielleicht könnte ich in den Wald gehen und wie die Wilden leben. Dort gibt es Raubtiere, aber ich könnte …«
    »Möchtest du etwas essen?«, fragte Martin.
    »Sehr gern«, antwortete das Mädchen wie aus der Pistole geschossen.
    »Was bin ich bloß für ein Idiot … Gehen wir.«
     
    Den vom Kellner gebrachten Brei pickte die Kleine Gott sei Dank nicht auf, sondern aß mit einer Art Löffel. Hätte das Mädchen angefangen, geschäftig mit dem Schnabel auf den Teller zu klopfen, wäre Martin Gefahr gelaufen, einen »Verstandschock« zu erleiden.
    Das schealische Mädchen verhielt sich jedoch wie ein ganz normales Menschenmädchen, das Hunger hat und sich über ein leckeres Essen hermacht. Energisch machte sie der Speise mit dem Löffel den Garaus, die sie anschließend genussvoll mit Fruchtsaft hinunterspülte. Martin spielte mit dem Gedanken, den Brei ebenfalls zu probieren, erkundigte sich beim Kellner jedoch vorsichtshalber nach den Zutaten. Schließlich konnten solch große Wesen wie die Schealier nicht nur Körner essen!
    Er tat gut daran – neben Grütze bestand die Kascha aus dem Gehackten eines »in der Erde lebenden Tiers«. Möglicherweise handelte es sich dabei lediglich um die hiesige Variante von Kaninchen, die in Höhlen lebten. Aber Martin, der sich vergegenwärtigte, dass in der Erde auch Würmer leben, legte keinen Wert auf eine Präzisierung der ursprünglichen Gestalt jenes Hackfleischs, verzichtete auf den Brei und bestellte ein Glas Saft.
    Das Mädchen wischte sich mit einer Serviette sorgsam den Schnabel ab. Dann sah sie Martin an. »Vielen Dank«, gestikulierte sie. »Es war sehr lecker.«
    »Mir ist immer noch völlig schleierhaft, was ich mit dir machen soll«, gestand Martin.
    »Würde man mich auf deinem Planeten für einen Menschen halten?«
    »Ein Mensch ist ein zweibeiniges Lebewesen ohne Federn«, zitierte Martin traurig Platon. »Ich will dich nicht anlügen. Man würde dich immer furchtsam beäugen. Aber man würde dich nicht kränken. Viele Außerirdische besuchen die

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