Spektrum
hielt ihm eine runde Kartonscheibe hin, die mit feinen Zeilen beschrieben war.
»Was ist das für ein Dokument?«, fragte Martin verwundert.
»Durch Ihr Eingreifen ist das Junge gerettet worden, das sonst unweigerlich gestorben wäre. Jetzt gehört dieser Vogel nicht mehr unserer Stadt Er ist jetzt ein Mitglied Ihres Schwarms.«
Protestierend hob Martin die Hände, wobei ihm zu spät einfiel, dass mit dieser Geste in touristischer Gebärdensprache ein äußerstes Maß an Begeisterung ausgedrückt wird.
»Warten Sie! Ich brauche kein schealisches Vogelkind!«
»Es gehört bereits nicht mehr der Stadt. Es ist Ihres.«
Die nächsten zehn Minuten stritt Martin mit dem Polizisten – falls man zwei Monologe einen Streit nennen konnte. Martin legte dar, dass es in der Kultur der Menschen nicht üblich sei, vor dem Tod gerettete Wesen zu versklaven oder zu adoptieren. Dem hielt der Polizist entgegen, die Kultur der Schealier gründe sich auf Traditionen und das vor dem Tod gerettete Wesen »wechselt in einen neuen Schwarm« über. Darauf versicherte Martin dem Polizisten, er habe sich keineswegs zur Aufgabe gesetzt, einen konkreten Vogel zu retten. Dies quittierte der Polizist mit dem Hinweis, etliche Zeugen bestätigten, einzig aufgrund von Martins Intervention sei der Vogel noch am Leben. Martin lehnte es entschieden ab, den Vogel mit zur Erde zu nehmen oder sich auf Scheali um ihn zu kümmern. Nun musste der Polizist einräumen, dieses Recht stünde Martin durchaus zu – aber dann würde das in die Einsamkeit getriebene Vogelkind sterben. Gallig wollte Martin wissen, ob er das Recht habe, mit dem Vogel zu tun, was ihm beliebt? Wie der Polizist erklärte, werde ein minderjähriges Wesen, das »aus dem Nest gefallen« sei, nicht durch das Gesetz geschützt.
Rotgesichtig und lautstark fluchend stürmte Martin zur Polizeiwache heraus.
Ein Vogelkind der Schealier! Ein Mitglied seines »Schwarms«!
Er stellte sich einen gigantischen Kanarienvogel vor, der durch seine Moskauer Wohnung tapste. Er malte sich aus, wie der Vogel, aufgeregt mit den Flügeln schlagend, erklärte: »Papa, Papa, die Jungs auf dem Hof haben gesagt, du bist nicht mein richtiger Vater.«
»Schweine!«, brüllte Martin. »Idioten! Debile!«
Das »Dokument für das Vogeljunge« brannte in Martins Hand. Rachsüchtig grinsend wollte er sich schon daran machen, das Kartonstück zu zerreißen. Und dann erinnerte er sich: »Ich lebe. Und ich habe doch schon gesagt, dass ich ein Mädchen bin.«
Wenn er sich nicht mit der kleinen Schealierin unterhalten hätte …
Ja, hätte er die Vogeljungen denn überhaupt gerettet, wenn er nicht vorher mit dem kleinen »Mädchen« gesprochen hätte?
»Dummkopf …«, fällte Martin flüsternd sein Urteil.
Die Regeln für Touristen waren eben nicht umsonst verfasst worden …
Nachdem er das Stück Karton in seine Tasche gesteckt hatte, raste Martin zum Springbrunnen. Aus irgendeinem Grund glaubte er, das Mädchen stünde nach wie vor in den Wasserstrahlen, zitternd, von einer Sekunde zur nächsten der Einsamkeit preisgegeben, jedem Schutz entzogen.
Doch das Mädchen saß auf der Bank. Nass, zerstrubbelt und schutzlos. Martin wusste, dass sie das war. Die anderen Vogelkinder hatte man inzwischen vom Springbrunnen weggebracht, auch alle Spuren des Blutbads waren beseitigt.
Martin wechselte in einen gemächlichen Schritt über. Er setzte sich neben sie. Dann blickte er das Vogelkind an.
»Wie dumm sich alles gefügt hat«, gestikulierte das Mädchen. »Bin ich jetzt in deinem Schwarm?«
»Ja«, erwiderte Martin.
»Habt ihr denn überhaupt Schwärme?«, fragte das Mädchen.
»Nein. Wir haben Familien … Nationen … Staaten … Aber das ist etwas anderes.«
»Das habe ich schon vermutet. Schlecht.«
»Was hätte ich denn tun sollen?«, fragte Martin in gesprochener Sprache den Raum.
»Ist das jetzt deine Sprache?«
»Ja.«
»Entschuldige, ich verstehe dich nicht, wenn du in einer anderen Sprache sprichst. Wenn du mich mitnimmst und ich Teil deines Schwarms werde, versuche ich, deine Sprache zu lernen. Ich bin begabt. Ich habe noch Zeit zu lernen.«
»Würdest du das denn akzeptieren? Wenn ich dich nicht mitnehme?«, fragte Martin neugierig.
»Ja. Wenn ihr keine Schwärme habt … ich gehöre einer anderen biologischen Gattung an … Da würde ich dir ja nur zur Last fallen.«
»Der Polizist hat sich nicht einmal dafür interessiert, ob wir Schwärme haben …«
»Der Polizist ist erwachsen. Er kann
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