Sphaerenmusik
plötzlich ein, dass sie nicht ein einziges Mal an Peter gedacht hatte. Lag es daran, weil sie sich im Zorn getrennt hatten und sie noch immer böse auf ihn war? Sie liebte nun einmal auch Unterhaltungsmusik, doch er war nur für ernste Musik zu haben. Daher hatte er nie Lust, mit ihr tanzen zu gehen, aber von ihr verlangte er, dass sie ihn ständig zu Konzertabenden b egleitete.
Da Peter selbst Geige spielte, hatten es ihm b esonders Violinkonzerte angetan, die sie am langweiligsten fand. Und das hatte sie ihm auch wortwörtlich gesagt und noch hinzugesetzt, dass er genauso langweilig sei wie das Musikstück. Verbittert und enttäuscht hatte er sie mitten auf der Straße stehen lassen und sich nicht mehr gemeldet.
Sie sann hin und her, darüber wurde sie müde und ihr fielen die Augen zu.
Im Einschlafen hörte Silvia noch eine Uhr die zwölfte Stunde schlagen, und dann war ihr, als würde sie eine Geige hören, erst sanftmütig, dann leidenschaftlich und voller Qual, danach wieder mild und zärtlich. Wie unirdisch, wie aus einer anderen Sphäre, dachte sie noch, bevor sie der Schlaf ganz einhüllte.
* * *
Am anderen Morgen wachte Silvia sehr früh auf. Sie sprang aus dem Bett und eilte noch im Nachthemd ans Fenster. Die Sonne kam gerade hinter den Bergen hervor und übergoss den Horizont mit ihrem rötlichen Schein. Es schien ein herrlicher Sommertag zu werden. Sie ließ das Fenster weit offen. Obwohl es noch sehr früh war, hatte sie keine Lust mehr, ins Bett zurückzukehren. Sie lief ins Bad, duschte sich und zog sich an.
Leise öffnete sie die Tür und sah auf den Flur hinaus. Kein Laut war zu hören, es schien noch niemand aufgestanden zu sein. Sie suchte den Schalter und knipste das Licht an. Die drohenden Schatten verschwanden. Sie betrachtete in aller Ruhe die Frauen und Männer aus den früheren Jahrhunderten. Die meisten wirkten steif und hö lzern in ihren Staatsgewändern. Silvia hatte den Eindruck, dass die Gesichter eisig auf sie, den Eindringling, herabblickten. Unwillkürlich rann ihr ein Schauder über den Rücken.
Wieder blieb das junge Mädchen vor einem Gemälde stehen. Es zeigte einen hageren Mönch mit finsteren Gesichtszügen.
Ganz in der Betrachtung dieses Bildes vertieft, fuhr Silvia erschrocken zusammen, als sich von hinten eine Hand auf ihre Schulter legte und eine tiefe Stimme sagte: „Ich bin der Geist des büßenden Mönchs.“ Dann ertönte ein helles Lachen, und Pamela fragte mit normaler Stimme: „Hab' ich dich sehr erschreckt, Kusinchen?“
Silvia wandte sich um und sah kopfschüttelnd Pamela an. „Da würde sich wohl jeder erschrecken, wenn plötzlich aus dem Hintergrund eine Grabe sstimme...“
„Ich dachte, du bist nicht abergläubisch?“, wu rde sie von Pamela unterbrochen.
Pamela trug Shorts und einen Pulli. Mit ihren kurzen Locken sah sie wie ein Lausbub aus. „Komm“, sagte sie, „ich zeige dir den D aphne-Tower. Wir haben noch viel Zeit bis zum Frühstück.“ Sie fasste ihre Kusine an der Hand und lief mit ihr an ihren und Silvias Zimmern vorbei bis zu der Stelle, wo der Gang um die Ecke bog.
Pamela wies auf eine schmale Tür. „Hier geht es in den West -Tower.“
Silvia wollte die Tür öffnen, wurde aber von Pamela daran gehindert. „Der West-Tower ist vol lkommen uninteressant. Meine Eltern haben dort Gästezimmer eingerichtet.“ Sie lachte. „Nur die Gäste fehlen noch.“
„Und was ist mit dem anderen vorderen Turm?“
„Dem East-Tower? Noch uninteressanter! Dort ist Mike einquartiert worden.“
„Mike?“
„Ein weitläufiger Verwandter von uns. Nun ist Mike Daddys Sekretär und gleichzeitig mein Hauslehrer.“ Sie seufzte.
„Arme Pam!“, spottete Silvia. „Während ich mich hier meiner Freiheit erfreue, musst du noch die Schu lbank drücken.“
„Ja, du hast's gut“, erwiderte Pamela. „Ich wünschte, ich wäre schon so alt wie du.“
Sie kamen an einigen weiteren Türen vorbei. „Wer wohnt hier?“, fragte Silvia neugierig.
„In den vorderen Räumen niemand und in den let zten beiden Joan.“
„Joan? Ihr habt wohl sämtliche Verwandten au fgenommen?“, fragte Silvia amüsiert. Sie waren vor dem Eingang zum Daphne-Tower stehen geblieben.
„Eigentlich sind nur Joan und Mike direkt mi teinander verwandt“, erwiderte Pamela. „Außerdem lebte Joan schon hier, bevor wir kamen. Sie hat genauso wie du durch Lord Allans Testament das Wohnrecht auf Lebenszeit. Jetzt ist sie unsere Wirtschafterin. Sie ist sehr
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