Spiegel der Offenbarung
einzigen Handbewegung schleuderte sie Aruna aus seiner Sphäre und aus allen göttlichen Sphären, und er stürzte wie ein brennender Komet vom Himmel hinab auf den Erdboden, in die Menschenwelt und musste fortan dort sein Leben fristen als Wesen zwischen den Welten, nicht Gott, aber auch nicht Sterblicher, und er trug einen Dämon in sich, der ihn daran hinderte, sich jemals wieder einer Frau zu nähern.
Und das womöglich für alle Zeit.
Aruna, der nun nur noch Arun war, dessen wahre Bedeutung niemandem mehr bekannt war, fand sich klagend und jammernd wieder in einer Welt, die schwer auf ihm lastete. Nie mehr war es ihm möglich, durch die Sphären zu fliegen, den Himmel anzumalen; den Beschränkungen des irdischen Lebens war er unterworfen.
Verzweifelt machte er sich auf den Weg und wurde so mit den Jahrhunderten zum Korsaren der Sieben Stürme, der es lernte, sich mit seinem neuen Leben zu arrangieren und vielleicht niemals Erlösung zu finden.
Denn erst als Verbannter auf der Erde entdeckte er den schwersten Fehler, den er jemals begangen hatte und der am nachhaltigsten war. Durch seine Schuld, weil er nur an sich und seine Erfüllung gedacht hatte, weil er gedankenlos hinsichtlich aller Konsequenzen gewesen war, die nun einmal jede einzelne Tat unweigerlich nach sich zog, hatte er wahrscheinlich allen Welten den Untergang gebracht.
Denn die von ihm damals zusammengeballten schlechten Eigenschaften flogen wie beabsichtigt aus dem Himmel, aber anstatt zu vergehen, wie es geplant war, fielen sie in der Menschenwelt auf reichen Boden. Die Gedankenlosigkeit des Gottes hatte das Unheil gebracht. Von Zwietracht, Neid, Eifersucht, Grausamkeit und allem Bösen, das dort unten herrschte, ernährten sich die schlechten Eigenschaften des Gottes und wuchsen.
Laura konnte die tragische Geschichte kaum erfassen.
»Der Schattenlord ... bist ... du?«
»Gewissermaßen«, antwortete der Gott. »Aber auch wieder nicht. Sagen wir, ich bin sein Erzeuger. Der Teil von mir, den ich abgespalten hatte, hat sich weiterentwickelt. Er saugte alles Böse, was es in der Welt gab, in sich auf und wuchs daran, wurde fett und schwarz. Er entwickelte ein eigenes Bewusstsein. Er wurde ... zum Schattenlord. Das potenzierte Zwielicht meines Selbst, jenes Dunkel, das gerade noch herrscht, bevor die Dämmerung heraufzieht. Als wäre er mein Schatten. Er wurde groß, er wurde zum eigenständigen Sein. Und als er nach der Bewusstwerdung begriff, wer er war, versteckte er sich in den verschiedensten Identitäten, um weiterzuwachsen und Macht zu sammeln, um dereinst der mächtigste aller Götter zu werden und alle Welten zu beherrschen.«
»Warum hast du es nicht verhindert?«, stieß Laura hervor.
»Als ich es erkannte, war es zu spät«, gestand Aruna kummervoll ein. »Ich war verflucht, mein dunkles Ich verschwunden, ich konnte es nicht mehr finden. Ich schickte also die ersten Fünf Sucher los, den Schattenlord zu finden und wieder zu mir zu führen. Jahrtausendelang vergeblich.«
Laura blickte erneut in den Spiegel, blind vor Tränen. Jetzt wusste sie es, bevor sie sah .
»Ich sehe ihn«, wisperte sie. »Ich erkenne ihn.«
Langsam drehte sie sich ein zweites Mal um. Ihr Blick richtete sich auf Milt, und mit gebrochener Stimme fragte sie verzweifelt:
»Warum du? «
20.
Der Schattenlord
»Ich habe dich nicht verraten«, sagte der Schattenlord. »Es ist alles wahr gewesen, von Anfang an.«
Das war eine Lüge wie alles andere auch. »Dann ... hat es Milt also nie gegeben?« Es war keine echte Frage, denn sie kannte die Antwort ja.
Laura hatte bis jetzt nicht gewusst, dass man ganz genau den Moment spüren konnte, wenn ein Herz brach. Ein kurzer, sehr heftiger Schmerz, und es machte sogar innerlich hörbar knacks .
»Doch, es gab ihn«, behauptete der Schattenlord. »Der Junge, der damals schwer am Herzen erkrankt in den Dschungel getragen wurde; er war derjenige gewesen, auf den ich gewartet hatte. Er wurde zu meiner Inkarnation. Ich gab ihm seine Gesundheit wieder, und dafür verband ich mich mit ihm.«
»Du hast ihn umgebracht ...«, hauchte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht. Er ist ich, ich bin er. Wir beide sind eins.«
»Lügner! Lügner ...«
»Ich habe dich nicht belogen, Laura. Ich liebe dich!«
Sie hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hände an die Ohren, ohne sie wirklich zu verschließen. »Wie kann ich das glauben? Du hast dich die ganze Zeit verborgen gehalten und mir etwas
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