Spiegelblut
trug sein Haar zu einem tiefen, geflochtenen Zopf gebunden. Jetzt, da ich mit dem Kopf auf dem Tisch lag und meinen Blick nicht zu Boden richten konnte, blieb mir nichts anderes übrig, als ihn anzusehen. Er wirkte insgesamt ein bisschen antiquiert, wenn auch nicht alt, eher so, als wäre er aus einem der letzten Jahrhunderte in die heutige Zeit gereist. Er schob das Glas mit dem Orangensaft zur Seite.
»Meine Güte, Damontez, sie ist …« Er betrachtete aufmerksam mein Gesicht, kam näher, und ich schloss ergeben meine Augen. »Ich habe noch niemals … heilige Sünde, verdammt noch mal … sie hat Wimpern wie die Fahne von Federn, ich kann dich verstehen …« Er schwieg leicht betreten. Hinter meinen geschlossenen Lidern wurden meine Augen feucht. Meine Wange klebte auf der Tischplatte, mein Kaffee war umgefallen und durchnässte meine Haare, lief die Tischkante hinunter auf mein Shirt – und dieser Cristin hatte nichts Besseres zu tun, als über die Länge meiner Wimpern zu philosophieren. Als einer der Lichtträger versuchte, die Flüssigkeit mit Servietten aufzunehmen, wollte ich den Kopf nach oben reißen, aber es endete in einem verzweifelten Zucken meiner Nackenmuskulatur unter Damontez’ festem Griff. Wieder unterhielt er sich mit Cristin, und ich musste all meine Kräfte mobilisieren, um nicht vor Wut über diese Zurschaustellung meiner Schwäche in Tränen auszubrechen. Als er mich gut eine halbe Stunde später endlich freigab, wagte ich es kaum, mich aufzurichten. Ganz vorsichtig stand ich auf. Der Frühstückssaal war vollkommen leer.
»Sieh mich an, Coco-Marie!«
Kaffee tropfte über meine Stirn, rann die Wangen hinunter, als ich den Kopf hochnahm. Sein Gesichtsausdruck verlor für den Bruchteil einer Sekunde an Schärfe, wurde fast weich, doch seine Worte waren unmissverständlich: »Wenn du das nächste Mal in der Öffentlichkeit die Regeln missachtest, wirst du dir wünschen, mir mit einem Blinzeln antworten zu dürfen. Verstanden?«
Ich nickte, der Kaffee tropfte auf meine Füße. Er ließ mich den Tisch und die Bank trocken wischen, danach musste ich ihm folgen. Während ich hinter ihm herlief, kreiste die ganze Zeit nur eine einzige Frage in meinem Kopf wie ein führerloses Karussell: Hätte ich mein Spiegelbild nicht gemieden, wäre ich dann auch bei ihm gelandet?
11. Kapitel
»Wer kämpft, kann verlieren,
wer nicht kämpft, hat schon verloren.«
BERTOLT BRECHT
»Ich habe dir gesagt, ein Spiegelblut kann die Kräfte eines Gegners reflektieren.« Damontez hatte mich in einen kargen Trainingsraum geführt. »Das letzte Spiegelblut, mit dem ich trainiert habe, sah die Kräfte seines Gegenübers irgendwann anhand einer Farbkombination vor seinem inneren Auge. Es konnte Gegner blind an diesen Mustern erkennen, ihre Angriffe voraussehen und abwehren. Meines Wissens ist die beste Möglichkeit, diese Kraft zu entfachen, der Kampf.«
Das letzte Spiegelblut? Was ist mit ihm passiert? Wo ist es jetzt? Bitte sag es mir!
Damontez schritt an das graue Mauerwerk. Eine ganze Armada Diamantsonnen reihte sich entlang der Wände wie Jagdgewehre. Je zwei stählerne Ringe fixierten eine Waffe. Von zweien in der Mitte löste er die Verschlüsse und kam mit beiden Speeren zurück.
»Myras Diamantsonne. Sie stellt sie dir zu Trainingszwecken zur Verfügung.« Er reichte mir den Speer. Myras Waffe war kürzer als seine, der Stab insgesamt schlanker und in der Mitte verjüngt. Die schillernde Diamantspitze war geformt wie ein Buchenblatt, nur etwas kleiner.
»Ich soll gegen dich kämpfen?« Ich musste ungewollt lachen. Das war ein Witz! Der Diamantspeer wäre in meinen Fingern so untauglich wie ein Filetspieß für einen Vegetarier.
»Für jeden Schlag, den du geschickt abwehrst, darfst du mir eine Frage stellen. Sieh mich an!« Er musterte mich mit einem Blick, den ein guter Christ als verteufelt angeprangert hätte. »Ansonsten darfst du nämlich an den Trainingstagen gar keine Fragen stellen, also gib dir in deinem eigenen Interesse Mühe.«
So wollte er mich also ködern. Aber ich würde die Fragen auch den Lichtträgern stellen können, vorausgesetzt, er ließ mich irgendwann einmal mit ihnen allein. Das zweifelte ich derzeit allerdings stärker an als die Unsinkbarkeit der Titanic.
Er griff mich ohne Vorwarnung an, vielleicht, weil ich wieder trotz Verbot gesprochen hatte. Ich sah das Glitzern zu spät, der Stahl traf mein Handgelenk. Mit einem markerschütternden Schrei entglitt mir Myras
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