Spiegelblut
Schneeflocken vor seiner Nase durch die Luft. Seine eigenen Worte fielen ihm ein: Es ist schwer, sie nicht gern zu haben.
»Seit wann ringst du nach Atem wie ein Mensch?«
Damontez sah immer noch feindselig aus; kein Wunder! Immerhin hatte er ihn angegriffen und versucht, sein Nachtschattenherz vor ihm zu beschützen. Wären sie Feinde, hätte Damontez das Recht, ihn zu töten. Niemand durfte sich ungestraft zwischen ein Mädchen und ihren Herrn stellen, es sei denn, das Mädchen forderte einen Vampir durch Blickkontakt dazu auf.
»Tue ich das?«
Damontez antwortete nicht, sondern beugte sich nah zu ihm herab. »Ich muss ihr Blut nehmen!« Seine Stimme klang dunkel und um Gleichgültigkeit bemüht.
»Was?« Pontus’ Lungen füllten sich vor Schreck erneut mit Luft. Er sollte aufstehen, um auf Augenhöhe mit Damontez zu sein, aber die Worte ließen ihn auf dem Eis verharren.
»Es muss sein. Die Umstände lassen mir keine Wahl. Die halbe Nacht habe ich darüber nachgedacht.« Keine Emotion, nichts.
»Warum?«, keuchte Pontus auf. »Ich denke, sie zeigt keinerlei Kräfte, ihr Blut wird dich nicht mächtiger machen als Remo oder Faylin.«
»Darum geht es nicht. Die Gerüchte sind nur der Anfang. In weniger als einer Woche verlangen sie bestimmt, das Mädchen in meiner Obhut zu sehen. Sie werden Coco-Marie fragen, wie es ist, den Nachtschatten im Herz zu tragen, den Tod gesehen zu haben. Wenn sie wirklich mein Blutmädchen wäre, müsste sie es wissen! Von der ersten Stunde an. Falls sie ihnen diese Frage nicht beantworten kann, verfestigt das ihr Misstrauen. Was das bedeutet, muss ich dir nicht erklären, oder?«
Pontus wurde es ganz elend ums Herz. »Dann bringen wir sie fort. Ich könnte mir ihr …«
Damontez schüttelte nur den Kopf. »Nein.« Die Ruhe in seiner Stimme verriet seine Kompromisslosigkeit. »Du tust gar nichts. Hier ist sie sicher. Noch!«
Aber ich bin unsterblich! Und es ist auch meine Aufgabe, sie zu schützen. Zumindest so lange, bis der Fluch gebrochen ist.
»Vielleicht können wir … musst du denn unbedingt …« Pontus verstummte, da er die Notwendigkeit von Damontez’ Vorhaben einsah. Er hatte recht. Könnte Coco nicht auf diese Frage antworten, würde die Tarnung auffliegen. »Ja«, stimmte er dann zu, »du musst.« Er kam sich vor wie ein Verräter.
Die Hände des Halbseelenträgers gaben seine Schultern frei. Pontus schloss die Augen. Er hätte es Coco gerne erspart. Ausgerechnet Damontez sollte derjenige sein, der ihr Blut nahm. Als hätte sie nicht sowieso schon genug Angst vor ihm. Oder bist du eifersüchtig, weil er ihr den Nachtschatten zeigen darf und nicht du? Du willst ihr Blut doch auch! Und wie du es willst. Du würdest dafür töten, wenn du ehrlich bist. Ginge es nicht um deine eigene unsterbliche Haut, würdest du dich nicht zurückhalten …
»Und wann?«
»Je eher, desto besser.« Damontez war aufgestanden und blickte auf ihn herab. Oh Gott, er hasste es, wenn er ihn so düster anstarrte, als wäre kein Funken Gefühl in ihm. Dann sah er genauso aus wie sein Seelenbruder Remo.
Pontus schluckte und richtete sich zum Sitzen auf. »Sie wird es nicht verkraften, wenn du sie einfach aus heiterem Himmel damit überfällst. Wenn du ihr den wahren Grund nicht nennen willst, gib ihr eine andere Erklärung. Deklariere es als Strafe oder Konsequenz für ein Verhalten, irgendetwas, das es nicht wie Willkür oder Begehren erscheinen lässt.« Es war eine Sache, sein Blut anzubieten, um einem anderen seine Schwäche vorzuführen, eine andere, es unfreiwillig lassen zu müssen, um die eigene Schwäche demonstriert zu bekommen.
»Den Grund gibt sie mir gerade. Einen besseren Zeitpunkt wird es so schnell sicher nicht mehr geben.« Damontez nickte Richtung Tor – im nächsten Augenblick nahm er Anlauf und sprang auf die Wehrmauer.
14. Kapitel
»Die Unterwürfigkeit ist ein Schleier,
der die Gesichtszüge des Stolzes verbirgt;
und die Anklage ist eine Maske,
die das Gesicht des Unglücklichen bedeckt.«
KHALIL GIBRAN, Sämtliche Werke
Ich musste hier weg. Ich konnte keine Sekunde länger bei ihm bleiben. Shanny war nur nach der Andeutung einer Geste von Damontez im Castle verschwunden. Die letzten Wochen im Sanctus Cor hatte ich nur überstanden, weil ich mich stündlich an ihr Versprechen erinnerte. Vielleicht würde er ihr nach dem Vorfall sogar den Umgang mit mir verbieten. Bei dem Gedanken zog sich mein Herz so sehr zusammen, dass es wehtat. Verzweifelt presste ich
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