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Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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Raunen setzte ein, als sie den Raum betrat. Sie hatte einen großen Koffer bei sich, aus dem sie mit ungeheuer geschwinden und geschickten Bewegungen zwei Flaschen Veuve Cliquot hervorzauberte. Sie goss den Versammelten ein, die rasch ihren Prosecco hinuntergestürzt hatten, um Platz für das edlere Getränk zu machen, und prostete zuerst der Gastgeberin und dann den anderen Damen zu.
Nun begann die Vorführung.
Lily war schon ein wenig beschwipst und fand alles sehr lustig. Kichernd sah sie zu, wie die Rote ihren Koffer auspackte und die Plastikdosen vor sich auf einen kleinen Tisch stellte. Mit gestelzten Worten erläuterte sie die Vorzüge der einzelnen Vorratsbehältnisse, machte dabei kleine Scherze und goss immer wieder nach.
Lily wusste nicht mehr, wie viele Gläser Champagner sie getrunken hatte, als die Rote schließlich die Bestellungen für die Tupperware-Dosen entgegennahm. Sie ließ eine Liste kreisen, in die sich alle Kauflustigen eintragen sollten. Kurz bevor die Liste Lily erreichte, stellte sie ihr Glas so ungeschickt auf der Kante des kleinen Beistelltisches neben ihr ab, dass es zu Boden fiel. Der dicke Teppich verhinderte eine Katastrophe; das wertvolle Kristallglas blieb heil. Außerdem war es schon wieder leer gewesen. Lily bückte sich rasch und hob es auf. Die anderen kicherten. Sie kicherte ebenfalls. Als sie wieder hochkam und das Glas weiter in die Mitte des Tischchens stellte, bemerkte sie das offene Buch.
„Bitte tragen Sie sich ein.“
Wer hatte das gesagt? Lily hatte die Stimme, die wie eine Nadel durch das Gekicher gedrungen war, nicht erkannt. Wo war die Liste geblieben? Oder war das die Liste? Sie wollte unbedingt kaufen und zog das Buch an sich heran. Es war schwer und sehr alt. Das aufgeschlagene, leere Blatt Papier war wellig wie von Feuchtigkeit. Sie blätterte kurz vor. Dort standen viele Namen.
„Ganz hinten bitte.“
Sie nahm den Kugelschreiber, der ihr von einer der Anwesenden gereicht wurde, und schrieb ihren Namen auf. Als sie auch ihre Adresse hinzufügen wollte, schnarrte die Stimme:
„Vielen Dank, das reicht.“
Das Buch wurde ihr aus den Händen genommen und zugeklappt, wobei ein Staubwölkchen aufstieg. Lily mußte wieder kichern, und die anderen fielen ein.
Die Rote verabschiedete sich und ließ noch zwei Flaschen Champagner da.
     
Als Lily am nächsten Morgen durch das Geschrei ihres Liebchens aus dem Schlaf gerissen wurde, schaute sie sich verdutzt um. Sie hatte keine Ahnung, wie sie in ihr Bett gekommen war. Dann setzten die Kopfschmerzen ein.
Und die Schmerzen an Armen und Rumpf.
Sie schlug die Bettdecke zurück und schreckte hoch, als sie all die blauen Flecke an ihrem Körper sah. Dann kamen Teile der Erinnerung zurück. Dennis hatte sie geschlagen, weil sie betrunken nach Hause gekommen war. Er war wie ein wildes Tier gewesen. Und Robin war aufgewacht und hatte wie ein irrsinniges Wolfsjunges geheult.
Lily schleppte sich unter Schmerzen in die Dusche und versuchte die Schmach abzuwaschen. Dabei wünschte sie Dennis den Tod an den Hals. Wenigstens hatte er ihr Gesicht verschont.
Sie kroch wieder ins Bett und blieb dort den ganzen Tag. Sie stand nur auf, um den unablässig kreischenden Robin zu füttern. Dabei kam sie am Spiegel in der Diele vorbei. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, nach dem Duschen etwas anzuziehen. Ihr Körper war grün und blau; es wirkte, als sei sie über und über tätowiert. Unter einen Lastwagen sollte er kommen, dieses Miststück von Dennis! Sie würde ihn verlassen! Gleich morgen. Nach diesem Entschluss ging es ihr wieder ein wenig besser.
Robin indes schrie auch nach der Fütterung weiter.
Am Abend kam Dennis nicht zur gewohnten Zeit nach Hause. Zuerst freute sie sich über den Aufschub, denn je näher die Stunde seiner Heimkehr rückte, desto ängstlicher wurde sie wieder; ihr Mut und ihre Kraft schwanden mit jeder Minute. Würde er sie erneut schlagen? Sollte sie wirklich weglaufen? Robin schrie aus seinem Zimmer, in das sie ihn gesperrt hatte. Das alles war doch nur noch ein einziger schrecklicher Alptraum! Sie kleidete sich an, denn sie wollte nicht, dass Dennis sie nackt sah. Er würde sie eine Schlampe nennen und noch wütender werden. Und sich vielleicht wieder an ihr vergehen. Dann wartete sie auf der geblümten Couch.
Nun war Dennis schon eine Stunde überfällig.
Zwei Stunden.
Nach viereinhalb Stunden schellte es an der Tür. Lily flog auf und öffnete in einer Mischung aus Hoffnung, Besorgnis und Angst. Zwei

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