Spiegelglas
Polizisten standen im Hausflur. „Lily Kleber?“ fragte der eine, ein großer Mann mit einem Schnauzbart wie ein Walross. Sie nickte. „Wir haben Ihnen eine traurige Mitteilung zu machen ...“
Die ganze Nacht saß sie an seinem Bett auf der Intensivstation. Die Monitore, an die er angeschlossen war, zeigten schwache Kurven, und andauernd piepte es. Dennis war von Kopf bis Fuß eingegipst. Sie hielt die harte, weiße Schale, in der seine rechte Hand steckte, und streichelte sie, als könne er diese Berührung fühlen. Er war nicht einmal bei Bewusstsein. Würde es vielleicht nie wiedererlangen. Die Ärzte hatten noch Hoffnung, aber sie war nicht groß.
Er war auf dem Heimweg von einem Biertransporter überfahren worden.
Jeden Tag ging sie ins Krankenhaus. Immer war es dasselbe. Er lag im Koma, aber er lebte noch. Und dann, nach etwa einer Woche, kam das Paket.
Lily packte die schönen neuen Tupperware-Dosen aus; sie hatte diesen Einkauf schon fast vergessen. In einem kleinen Behälter mit rotem Deckel lag ein Zettel. Zuerst glaubte sie, es sei die Rechnung, doch es handelte sich um eine maschinegeschriebene Nachricht.
„Am nächsten Freitag um 23.00 Uhr auf der Heide hinter dem alten Kloster. Bring das Kind einfach mit.“ Das war alles. Zuerst glaubte sie, der Zettel sei versehentlich in die Dose gelegt worden, denn nichts deutete darauf hin, dass Lily wirklich der Adressat der Botschaft war – nichts außer der Erwähnung des Kindes. Aber es konnte jedes beliebige Kind sein. Trotzdem wurde sie umso nervöser, je näher es auf den Freitag zuging. Vielleicht hatte Regula ihr diese Nachricht untergeschoben. Vielleicht sollte es eine Überraschung sein, eine Aufmunterung, eine Ablenkung von ihrer grausamen Lage. Sie verbrachte immer noch viele Stunden am Bett ihres Mannes, der inzwischen von der Intensivstation auf ein gewöhnliches Krankenzimmer verlegt worden war – auf ein Einzelzimmer, denn man konnte seine komatöse Gegenwart keinem anderen Patienten zumuten. Während Lily neben ihm saß und seinen regelmäßigen Atemzügen lauschte, schweiften ihre Gedanken immer häufiger ab. Und als sie endlich begriffen hatte, dass Dennis ihre Gegenwart nicht wahrnahm, entschloss sie sich, am Freitag um elf Uhr abends zur Heide hinter dem Kloster zu gehen. Und Robin mitzunehmen.
Da der kleine Schreihals etwas dagegen hatte, auf die Reise zu gehen, und Lily sich von ihm den Abend nicht verderben lassen wollte, flößte sie ihm einen gehörigen Schluck von dem Amaretto ein, den sie immer für ihr Tiramisú brauchte. Danach lallte der Kleine noch ein wenig, und schließlich schnarchte er laut. Lily nahm ihn unter den Arm und verließ die Wohnung. Sie verschnürte den Jungen sorgfältig im Kindersitz des kleinen VW und schaute ihn lange an. Er war eindeutig ein süßer Fratz, und bei Gott, sie liebte ihn! Glücklich huschte sie hinter das Lenkrad und fuhr los.
Das alte Kloster lag am entgegengesetzten Ende der Stadt; es dauerte länger als eine halbe Stunde, bis sie schließlich bei der Ruine ankam, die von weißem Mondlicht überspült wurde. Dahinter schloss sich die Heide an. Sie stellte den VW auf dem kleinen Parkplatz neben der Ruine ab, zwängte sich den immer noch schnarchenden Robin unter den Arm und umrundete das Kloster. Moos und Gras federten ihre Schritte angenehm ab. Die Heide lag wie ein weißes Tuch vor ihr. Niemand war zu sehen. Leise Windstöße wickelten sich um ihren Parka und zausten ihr blondes Haar. Was mache ich hier? fragte sie sich plötzlich. Warum laufe ich mitten in der Nacht mit meinem Kind über eine verlassene Heide?
Weil du weglaufen willst, und weil du ein Ziel brauchst, sagte eine Stimme in ihr.
„Und weil du dein Leben ändern willst. Und weil du zu uns gehörst, denn du hast dich uns und ihm verschrieben.“
Lily zuckte zusammen. Woher kamen diese Stimmen? Hier war doch niemand.
Ein Schatten ragte dem Mond entgegen. Er teilte sich; immer neue Schatten wuchsen aus ihm hervor. Und kamen auf Lily zu. Sie umringten die Neue. Umtanzten sie. Nahmen sie auf in ihren Frauenreigen. Lily erkannte ihre Freundin Regula, die ihr zulachte. Ein paar der Frauen hatte sie auf der Tupperware-Party gesehen, andere waren ihr völlig fremd. Die Große mit den feuerroten Haaren war auch dabei – natürlich.
Dann kam er.
Er war majestätisch, überirdisch schön, stattlich – und nackt. Was Lily sah, verhieß größte Lust. Und sie wurde nicht enttäuscht. Vergessen war ihr Kind, als der Mann sie
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