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Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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umarmte. Eine der Frauen nahm Robin entgegen. Und Lily versank in etwas, das sie noch nie erfühlt hatte.
Als sie danach nackt, zufrieden und befriedigt auf dem kalten Gras der Heide lag, sah sie aus den Augenwinkeln, wie zwei der Frauen den immer noch schlafenden Robin dem Mond entgegenhielten. Und sie hörte die warme, angenehme Stimme ihres wunderbaren Liebhabers.
„Du bist aufgenommen in den Kreis des wahren Lebens. Nun wird mir das reine Opfer dargebracht werden, und alle deine Wünsche werden für immer in Erfüllung gehen – nicht halb, wie bisher, sondern vollständig. Deine Lust und deine Freude werden endlos sein.“
Lily durchströmte bei diesen Worten ein unaussprechliches Glücksgefühl. Doch dann sah sie das Messer im Mondlicht blitzen. Die Rote hielt es in der Hand.
Es sauste auf Robin zu.
Ihr Kind! Es war immer noch ihr Kind! Lily handelte, ohne weiter nachzudenken. Sie sprang vom Boden auf, rannte auf die große Frau zu, die das Messer schwang, und entriß es ihr, bevor es sich in die Brust ihres Kindes bohren konnte. Ein Chor der Enttäuschung erhob sich, der in Wutgebrüll umschlug. Die Frauen, die sich ebenfalls entkleidet hatten, kreisten Lily ein. Sie riss Robin an sich, der inzwischen aufgewacht war und wie ein Dämon brüllte, brach sich eine Bresche durch die Frauenleiber, flüchtete über die Heide zur Klosterruine und ihrem Wagen und warf einen raschen Blick zurück. Die Frauen verfolgten sie, nicht aber der wunderschöne Mann, der mit ausgebreiteten Armen unter dem Mond stand.
Lily erreichte den Wagen und musste feststellen, dass die Schlüssel noch in ihrem Parka steckten, der da draußen auf der Heide lag. Entsetzt lief sie weiter. Die Frauen holten auf. Sie hörte schon das Keuchen und Schnaufen ihrer Verfolgerinnen, die schweigend hinter ihr herrannten. Da blendete gleißendes Licht sie. Die Schritte hinter ihr verstummten.
Ein Auto kam heran.  Es hielt, das Fenster auf der Fahrerseite wurde heruntergekurbelt, und ein Männerkopf streckte sich verwundert heraus.
„Bitte helfen Sie uns, schnell!“ rief Lily, während sie auf den großen, schwarzen Wagen zulief. Der Mann öffnete ihr die Beifahrertür und fuhr los. Lily hielt den nur noch heiser krächzenden Robin an die nackten Brüste gedrückt und schaute in den Rückspiegel. Die Heide lag verlassen und menschenleer hinter ihr.
Der Mann warf ihr seltsame Blicke zu, die ihr mehr als unangenehm waren, und brachte sie gegen ihren Willen zu sich nach Hause, wo er ihr behelfsmäßige Kleidung und ein wenig Geld gab. Davon leistete sich Lily ein Taxi und einen Schlüsseldienst. Als sie Robin zu Bett gebracht hatte und wieder auf der Couch ihrer Wohnung saß, erschien ihr das Abenteuer dieser Nacht wie ein Traum, von dem sie nicht mehr wusste, ob er schrecklich oder schön gewesen war.
     
Zwei Tage später wachte Dennis aus dem Koma auf.
Seine Genesung machte große Fortschritte, und nach einem halben Jahr war er wieder zu Hause. Er ließ sich von Lily bedienen, schob seine körperliche Verfassung vor, wenn er etwas im Haushalt tun sollte, und mäkelte noch mehr herum als früher.
Als er eines Tages Lily wegen eines angebrannten Gratins heftig ohrfeigte und Robin dazu hinter ihr in seinem Laufställchen begeistert „Papa, Papa!“ schrie, dachte Lily an die Nacht auf der Heide zurück.
Und erschrak vor ihren eigenen Wünschen.
     
Ende
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
Im Schatten
     
Der alte Mann hielt die Brillengläser dicht über das braune Papier. Kaum mehr konnte er die Buchstaben erkennen und noch weniger den Sinn der Worte. Er seufzte, legte die geschliffenen Gläser auf den Folianten und erhob sich mühsam. Mit steifen Schritten schlich er in der niedrigen, mit Büchern vollgestopften Studierstube umher. So viel angehäuftes Wissen, dachte er müde, gesammelt in beinahe sechzig Jahren. Und was hat es mir genützt? Habe ich es gefunden? Habe ich ihn gefunden? 
Er hatte die Werke der großen Naturwissenschaftler studiert, sich mit Albertus Magnus, dem Aquinaten, Augustinus beschäftigt, hatte die dunklen Traktate der Alchimisten gelesen und sogar den Hexenhammer zu Rate gezogen, aber alles war umsonst gewesen. Mit neu erwachtem Eifer hatte er sich auf die jüngsten Werke Reuchlins gestürzt, besonders auf das „De verbo mirifico“, das er bereits kurz nach dessen Erscheinen in der Hand gehalten hatte, doch auch hier war er enttäuscht

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