Spiegelglas
worden. Das ganze Wissen der Welt hatte ihn nicht einen einzigen Schritt weitergebracht.
Er hatte Gott nicht gefunden.
„Theophilus!“, rief er mit brüchiger Stimme. Ein junger Mann in einem zerschlissenen Wams betrat die stickige Studierstube. „Ihr habt gerufen, Meister?“, sagte er. Auch seine Stimme klang müde.
„Ich habe entschieden, dass mein Lebenswerk gescheitert ist“, sagte der alte Mann. „Mach Feuer im Kamin.“
„Es ist doch Sommer“, entgegnete Theophilus.
„Tu, was ich sage.“
Ohne ein weiteres Wort schichtete Theophilus im kleinen Kamin gegenüber dem Fenster Holz auf, entzündete dann einen Fidibus und brachte das Feuer vermittelst eines kleinen Blasebalges in Gang. „Hier herrscht eine Hitze wie in der Hölle“, beschwerte sich Theophilus und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Und nun hilf mir, die Bücher zu verbrennen.“
Theophilus riss ungläubig die Augen auf. Der alte Gelehrte nahm bereits mit zitternden Händen die ersten Bände von den Regalen und schleuderte sie voller Abscheu in die züngelnden Flammen. Einige Bücher fielen neben den Kamin. Theophilus hob sie auf und legte sie beinahe behutsam ins Feuer. Sie loderten hell auf. Und sie stanken.
Nach vielen Stunden war die Arbeit vollbracht. Theophilus hatte das Fenster geöffnet, damit der beißende Rauch abziehen konnte, und er hatte die Studierstube verlassen, als die Regale leer waren. Nun war nur noch jenes Buch übrig, das der alte Gelehrte zu entziffern versucht hatte, als die Verzweiflung über ihn gekommen war. Er schleppte sich zum Tisch, schlug das Buch zu, sah kaum den Staub, der von ihm hoch wirbelte, und trug es hinüber zum Kamin. Er hatte es gerade den Flammen übergeben, als plötzlich jemand an der Tür seiner Kammer klopfte.
„Komm herein, Theophilus“, rief der Gelehrte.
Aber niemand trat ein.
Der alte Mann keuchte zur Tür und zog sie auf. Niemand stand vor ihr. Während er sie wieder schloss, spürte er einen Lufthauch an sich vorüberziehen. Er drehte sich um – und gefror in seiner Bewegung.
Der Gelehrte kniff die Augen zusammen. Mitten im Zimmer stand ein Mann. Oder war das nur der wirbelnde Rauch, den das letzte Buch von sich gab? „Euer Lehrling Theophilus sagte mir, Ihr braucht Hilfe“, meinte die Gestalt mit fester, jugendlicher Stimme.
Der Gelehrte machte einen Schritt auf ihn zu. Es war kein Rauch, keine Phantasmagorie, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut. Der Gelehrte musste ihn übersehen haben, als der Mann ins Zimmer getreten war. Entsetzt stellte er fest, dass er bald blind sein würde. „Ich brauche keine Hilfe“, sagte er mürrisch. „Wer seid Ihr?“
„Euer Gehilfe hat mir erklärt, was Ihr sucht. Ich kann Euch das verschaffen, wonach Ihr Euch Euer ganzes Leben lang gesehnt habt“, sagte der junge Mann. Der Gelehrte näherte sich ihm noch mehr und ahnte nun, wie schön dieser Fremde war. Sein Lächeln hatte etwas Beruhigendes, Strahlendes. Er zog einen kleinen Gegenstand unter seinem altmodischen Umhang hervor und reichte ihn dem Gelehrten.
Es war ein Taschenspiegel, so wie ihn putzsüchtige Frauen benutzten. Er war geschliffen, steckte in einem schlichten Goldrahmen und hatte einen kleinen, schlanken Griff. „Seht nur immer hinein“, sagte der schöne junge Mann. „Dann werdet Ihr erkennen.“
Der Gelehrte fühlte sich benommen. Bevor er wusste, was er tat, hatte er den Spiegel ergriffen und fragte: „Was muss ich dafür bezahlen?“
„Die Gegenleistung ist leicht: Ihr sollt Euch aufrichtig an dem erfreuen, was Ihr darin seht“, gab der junge Mann zurück. Er ging zur Tür, riss sie mit großem Schwung auf und verließ die Studierstube.
In der Nacht hatte der alte Gelehrte einen Traum. Er hatte den Spiegel aufgenommen und hineingeblickt, aber nichts darin gesehen. Eine innere Stimme sagte ihm, er müsse genauer hinschauen. Und tatsächlich regten sich in dem Spiegel nun graue Schemen.
Am Morgen erhob sich der Gelehrte verwirrt von seinem Lager, stolperte in die Studierstube und nahm den Spiegel vom Tisch auf. Er sah das, was er zu sehen erwartet hatte. Es waren Umrisse, wahrscheinlich seine eigenen, doch er konnte sie kaum erkennen. Auch als er seine Brille aufsetzte, wurde es nicht viel besser. Doch immer wieder warf er einen Blick in den Spiegel, wenn er an seinem leeren Tisch saß. Und allmählich sah er sich deutlicher.
Nach einigen Tagen benötigte er nicht einmal mehr seine Brille.
Später hatte er einen weiteren Traum. Er betrachtete gerade wieder
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