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Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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sein deutliches, fest umrissenes Spiegelbild, als plötzlich daraus ein Leuchten hervorging. Es war ein warmes Glimmen, wie von einem ruhig und stetig brennenden Feuer, und es verursachte dem Gelehrten ein Gefühl größer Freude.
In den folgenden Tagen veränderte sich der Gelehrte. Er sah das Leuchten nun auch im wachen Zustand; er erkannte, wie sein Antlitz sich ein wenig verjüngte und freudiger, friedlicher und glücklicher wurde. Es strahlte geradezu vor Fröhlichkeit. Und er sah all den Staub und Unrat in seiner Stube zum ersten Mal seit vielen Jahren deutlich. Er befahl Theophilus zu sich, und gemeinsam säuberten sie die Kammer. Theophilus machte keine Bemerkung über die Veränderung, die mit seinem Meister vorging, doch das Verhalten und die glückliche Miene des Gehilfen sprachen für sich.
Der Gelehrte hatte gar nicht bemerkt, dass schon Frühling war. Eines Morgens öffnete er das Fenster und sah den Apfelbaum davor, der in voller Blüte stand. Eine Amsel sang in ihm ihr Morgenlied.
Und so war es nun jeden Morgen.
Dann hatte er einen neuen Traum. In ihm begriff er, von wem dieses Leuchten ausging, das sein Spiegelbild noch immer durchglühte. Er begriff, dass er schließlich doch an das glückliche Ende seiner Suche gekommen war. Als er dies erkannt hatte, öffnete sich im Traum die Tür seiner Studierstube, und der schöne junge Mann trat ein. „Es freut mich, dass Ihr am Ziel Eurer Wünsche angelangt seid“, sagte er. „Nur wenigen Menschen ist das vergönnt. Aber Ihr habt es Euch verdient, weil Ihr Euer ganzes Leben lang danach gesucht habt. Das hier braucht Ihr nun nicht mehr.“ Er nahm den Spiegel an sich und steckte ihn unter seinen Umhang. Beim nächsten Lidschlag war der junge, schöne Mann verschwunden. Nur noch ein Lufthauch, in dem der Duft von Apfelblüten lag, zeugte davon, dass er da gewesen war.
Es verwunderte den Gelehrten nicht, als er am nächsten Morgen den Spiegel nicht mehr fand. Er brauchte ihn nicht mehr. Er setzte sich an das geöffnete Fenster, betrachtete den Baum und hörte der Amsel zu. All das stand in Beziehung zu ihm selbst und zu dem, der alles geschaffen hatte. Und es war sehr gut.
Und lange Zeit war es gut. Doch es kam der Tag, da der Apfelbaum verblüht war und die Amsel nicht mehr sang. Nun hatte der Baum saftig-grüne Blätter, und Nachtigallen und Finken sangen, und noch später trieb der Baum rote Äpfel aus, aber der Gelehrte hatte keinen Blick mehr dafür übrig. Noch immer sah und spürte er das Abbild des Schöpfers in aller Schöpfung und vor allem in sich selbst. Aber das genügte ihm nicht mehr. Es wurde ihm langweilig, immer nur den Schatten zu sehen und niemals den, welcher den Schatten warf. Er öffnete das Fenster nicht mehr und starrte nur noch die leeren Regale an. Auch sein Gehilfe konnte ihn nicht aufmuntern; er wurde schließlich genauso mürrisch wie sein Meister.
„Ich will das Geheimnis in mir selber sehen! Nur zu ahnen und nicht zu wissen ist das Schrecklichste, was es gibt!“, rief der Gelehrte eines Tages, als der Herbst bereits die Blätter färbte. Da kehrte der junge, schöne Mann zurück. Er klopfte nicht an, er trat nicht ein, er war einfach da. Der Gelehrte wusste nicht, ob er wachte oder träumte. „Wer bist du in Wirklichkeit?“, wollte der Gelehrte von dem jungen Mann wissen. „Bist du ein Engel oder ein Dämon? Bringst du Glück oder Unglück?“
„Ich bin das, was du willst, und ich bringe das, was du begehrst“, antwortete er. „Was spielt es da für eine Rolle, wie du mich nennst?“
„Wenn du mir wirklich bringst, was ich begehre, dann verlange ich von dir, dass du mir Schöpferkraft verleihst.“
„Du hast sie“, antwortete der Mann. „Du hast sie schon immer besessen.“
„Bin ich Gott?“
„Du bist wie Gott.“
„Dann will ich, dass aus diesem Tisch ein Krokodil wird.“
Der Tisch war verschwunden, und das Krokodil schnappte mit grausigen Zähnen nach dem Gelehrten. Er sah, dass es nicht gut war, was er da getan hatte. Sofort wollte er, dass sich das Krokodil in einen Schmetterling verwandelte. Und so geschah es.
Der Schmetterling strebte dem Licht zu, das durch das geschlossene Fenster hereinfiel. Er stieß gegen die Scheiben und versuchte verzweifelt, aus dem Zimmer zu entkommen. Es erbarmte den Gelehrten und er wünschte sich das Fenster offen.
Und es stand offen.
Der Schmetterling flog hinaus. Doch der kalte Herbsttag zerdrückte ihm die Flügel. Er stürzte ab und war nicht mehr zu sehen. Frostig wehte

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