Spiegelkind (German Edition)
gesagt hatte, konnte die Pausenaufsicht dieses Argument wahrscheinlich in meinen Augen flimmern sehen, jedenfalls brachte sie mich schnell ins Sekretariat. Dort hatte ich erfahren, dass der Lehrplan und die Raumbelegung sich geändert hatten, und einen neuen Plan bekommen.
Ich hatte mich keine Sekunde lang gefragt, warum man mir das nicht einfach rechtzeitig gesagt hatte. Ich war davon ausgegangen, dass es so sein musste und nicht anders. Ich war klein und unwichtig und immer selber schuld, wenn ich irgendwas verpasst hatte. Wenn ich eine Regel gebrochen hatte, von der ich nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierte, dann hatte ich trotzdem versagt.
Den ganzen Weg zum Sekretariat hatte ich damals auf die Wände geschaut, die waren zwar alle gleich, aber hier und da ragte ein etwas dunklerer Ziegelstein hervor. Die dunklen Steine fügten sich zu genau dem Wegweiser, den ich mir damals gemerkt hatte.
»Also wirklich«, schnaufte Ksü hinter mir. »Ich weiß nicht, ob ich lange genug an dieser Schule bleiben werde, um mir wenigstens den Weg zum Mädchenklo einzuprägen. Von anderen Sachen rede ich ja gar nicht mehr.«
Ich fand es merkwürdig, dass sie so über unsere Eliteschule redete, mit den langen Wartelisten und dem hohen Schulgeld.
Kurz vorm Ziel musste ich nun doch eine Weile überlegen, welche von den vier absolut gleichen Türen die richtige war. Und vielleicht hätte ich mich erst mal geirrt, wäre nicht eine von ihnen aufgegangen, um einen bleichen Seniorschüler durchzulassen, der uns fast aus dem Weg gefegt hätte. Mir reichte die Zeit, um durch den Türspalt das schwarze Pult der Sekretärin zu erspähen, und ich trat mit Ksü im Schlepptau hinein.
Ich wusste nicht mehr, ob ich damals vor drei Jahren dieselbe Sekretärin vor mir gehabt hatte wie jetzt. Ich ging jedenfalls davon aus, dass es eine Frau war, ganz sicher war ich mir nicht. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug und ihre Haare waren so kurz und glatt, als wäre sie eine Puppe. Die Brille hatte ein feines Drahtgestell und die Brillengläser waren merkwürdig milchig. Ihre Augen waren nicht zu sehen.
»Ja?« Sie stand gerade am Kopierer, der eine Seite nach der anderen in ihre Hände spuckte.
Ich zögerte einen Moment, aber dann fiel mir wieder ein, dass ich nicht mehr die kleine schüchterne Juli von vor drei Jahren war. Ich war nicht einmal mehr die kleine, schüchterne Juli von vor drei Tagen. Ich war eine Pheentochter, also fast ein Monster. Sollten doch die anderen Angst haben.
»Ich möchte mich beschweren!«
Die linke Augenbraue der Sekretärin kroch in die Höhe. »Beschweren?«
»Ja.« Nun war ich mir meines Vorhabens plötzlich nicht mehr sicher und Ksü, die sich hinter meinem Rücken versteckte und anscheinend den Atem anhielt, war auch keine große Hilfe.
»Der Beschwerdekasten ist draußen, die Beschwerden sind schriftlich auf einem normierten Blatt Papier einzureichen«, sagte die Sekretärin monoton. »Bei Minderjährigen ist die Beschwerde ohne Unterschrift des Erziehungsberechtigten ungültig.«
»Wir haben draußen keinen Beschwerdekasten gesehen«, piepste Ksü von hinten.
»Ich will mich nicht schriftlich beschweren«, unterbrach ich sie. »Sondern direkt. Keine große Sache. Wahrscheinlich ein Missverständnis.«
Ich war auf Abfuhren aller Art vorbereitet, aber nun hatte die Sekretärin offenbar beschlossen, dass sie am ehesten Zeit sparte, wenn sie mir kurz zuhörte.
»Was ist denn schon wieder?«, fragte sie mit müder, fast schon menschlicher Stimme.
»Ksü«, ich deutete mit dem Daumen hinter meinen Rücken, »ist erst seit ein paar Tagen am Lyzeum. Ich wurde ihr also als Patin zugeordnet.« Ich redete möglichst schnell, bevor die Sekretärin die Geduld verlor und uns wieder rauswarf. »Und jetzt haben wir erfahren, dass ich nicht mehr ihre Patin bin und Ksü ist seltsamerweise in eine andere Gruppe gekommen. Das kann nur ein administrativer Fehler sein, auf den ich Sie hiermit aufmerksam machen möchte.«
Ich klappte den Mund zu und wartete auf eine Reaktion, aber vergeblich.
Die Sekretärin sortierte ihre Blätter, ohne mich anzusehen.
»Ich gehe davon aus, dass es hiermit erledigt ist?« Ich klang schon fast wie Kassie, bereit dazu, jeden verzögerten Widerspruch für eine Zusage zu halten.
»Nummer?«, fragte die Sekretärin tonlos.
Ich schob meinen Ärmel hoch und hielt der Sekretärin mein Armband hin. Sie ließ ihren Handscanner kurz aufzwitschern. Dann las sie die Information auf ihrem
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