Spiegelkind (German Edition)
Display durch. Dabei bewegten sich ihre Lippen. Ich konnte nicht sehen, ob sie mich anschaute, weil ihre Brillengläser so undurchsichtig waren.
»Es ist alles korrekt, Juliane Rettemi, du bist nicht mehr die Patin von Ksenia Okasaki.«
»Das kann nicht sein.«
»Es geht an unserer Schule nicht darum, was wir wollen, Juliane Rettemi. Wir haben die Information bekommen, dass du der Aufgabe der Patenschaft nicht gewachsen bist und dass sie keinen guten Einfluss auf dich hat.«
»Von wem kommt dieser Unsinn?«
»Wortwahl, Juliane Rettemi. Und zu deiner Frage: Das ist vertraulich.«
Ich starrte in ihre Brillengläser, immer noch in der verzweifelten Hoffnung, dahinter ein Augenpaar zu erspähen.
»Es gibt sicher eine Möglichkeit, diese Patenschaft wiederherzustellen?«
»Es bleibt, wie es ist.«
»Nein«, sagte ich. Ich rührte mich nicht von der Stelle, obwohl ich genau wusste, dass nichts so sinnlos war, wie mit der Schulsekretärin zu diskutieren.
Und dann sagte die Sekretärin, bevor sie mir endgültig ihren knochigen Rücken zuwandte: »Diese Information kommt aus deinem privaten Umfeld, Juliane Rettemi.«
Ksü traute sich gar nicht, mich anzugucken, vermutlich weil ich so schrecklich aussah. Wir setzten uns auf eine Bank im Freien und ich kickte wütend ein paar Steine weg und schaute in den Himmel, um mich zu beruhigen.
»Das wird mein Vater gewesen sein«, sagte ich, als ich nicht mehr schweigen konnte. »Aber ich verstehe nicht, wieso.«
»Na ja«, sagte Ksü. »Mir würden da schon ein paar Gründe einfallen.«
Sie hatte natürlich recht. Nach allem, was mein Vater über Ksü gehört hatte, so wie er mich in der jüngsten Zeit erlebt hatte, nach allem, was ich über seine Reaktionen auf bestimmte Dinge wusste, war klar, dass er jetzt Maßnahmen ergreifen musste. Und zwar genau solche. Ich konnte fünf Jahre alt sein oder fünfzehn – wenn ihm jemand nicht gefiel, durfte ich mit ihm nichts zu tun haben.
»Ich frage mich, wie er das geschafft hat«, sagte ich. »Wenn ich zu einer Patenschaft verdonnert werde – Verzeihung, Ksü, aber so habe ich es damals empfunden –, wie kann es sein, dass mein Vater sie einfach wieder aufheben kann? Ist das nicht Sache des Lyzeums?«
»Überprüf euer Konto«, grinste Ksü. »Du ahnst gar nicht, wie einfach die Dinge dann werden.«
»Wie?« Ich blinzelte. »Meinst du, mein Vater hat die Schulleitung bestochen?«
»Bestochen? Pfui, was für Ausdrücke. Weißt du nicht, dass es einen Gebührenkatalog für so was gibt?«
»Was für einen Katalog?«
»Na, für kleine Gefälligkeiten, für Noten, Versetzung, Nichtversetzung, Strafe, Aufheben von Strafe, so was halt.«
»Nie gehört«, sagte ich ratlos.
»Tja«, sagte Ksü. »Ich bin fasziniert, wie wenig neugierig manche Menschen sind. Schüler wissen natürlich meist nichts von dem Katalog, weil ihre Eltern schlau genug sind, ihnen manches zu verheimlichen. Stell dir vor, jeder Schüler wüsste, dass man sich bestimmte Dinge, inklusive Noten, einfach kaufen kann.«
»Aber woher weißt du das?«
»Hab die Info im Netz gefunden.« Ksü zuckte mit den Achseln.
»Mit Mister Cortex?«
»Mit wem sonst.«
Ich glaubte Ksü sofort. Vielleicht, weil ich das Gefühl hatte, dass nach dem Verschwinden meiner Mutter alle logen, denen ich bis jetzt geglaubt hatte. Menschen, denen ich mal vertraut habe, verhielten sich wie bösartige Clowns. Nur Ksü mit ihrer Schlange auf dem kahlen Schädel, mit ihren zerknautschten Klamotten und dem schnellen blauen Moped war echt. Und ihre Nähe hielt mich aufrecht.
»Ksü«, sagte ich. »Auch wenn ich nicht mehr deine Patin bin – meinst du, ich könnte noch mal an dein Notebook?«
Sie drehte sich mit dem ganzen Körper zu mir. Überrascht sah ich, wie ein Lächeln Grübchen auf ihre Wangen zauberte. Ich konnte nicht mehr verstehen, warum andere sie für eine Vogelscheuche hielten und ich da auch noch zugestimmt hatte. Schon seit gestern fand ich Ksü cool, jetzt ertappte ich mich bei dem Gedanken, dass sie hübsch war, fast so hübsch wie ihr Bruder.
»Du kannst jederzeit zu mir kommen!«, sagte Ksü strahlend.
Ich dachte an meine Großmutter, an meinen Vater und an den Gebührenkatalog für kleine Gefälligkeiten. Sie würden mir wohl kaum noch mal erlauben, Ksü zu besuchen. Andererseits hatte ich nicht das leiseste Bedürfnis, sie überhaupt noch um Erlaubnis zu fragen. Und dann hatte ich eine noch bessere Idee.
»Weißt du, was«, sagte ich, »am besten kommst du mit
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