Spiegelkind (German Edition)
zu mir.«
Unter Normalen
Ich warnte Ingrid nicht vor. Ein bisschen Aufregung könnte ihr sowieso nicht schaden, fand ich. Ich hatte sie nicht darum gebeten, in unserem Haus zu bleiben. Schließlich war es immer noch Mamas Woche – und in der hatte sie mir gar nichts zu sagen.
Wir fuhren mit Ksüs Moped los und es war ganz anders als gestern. Bald waren wir in meinem Viertel, ich kannte jeden Papierkorb hier. Schnell hatten wir den Schulbus überholt und Ksü machte sich einen Spaß und fuhr eine Zeit lang neben ihm her. In den Fenstern sah ich versteinerte Gesichter unserer Mitschüler.
»Nicht zu fassen«, schimpfte Ksü. »Ist der Bus immer so lahm? Wenn ich in dem Tempo fahren würde, würde ich für meinen Schulweg drei Tage brauchen.«
»Wäre doch auch nicht so schlecht.«
Ksü lachte.
»Was für ein herrlich normales Viertel!«, brüllte sie, als wir von der Hauptstraße abbogen.
Mir war nicht klar, ob das Begeisterung oder vielleicht doch Häme war. Ja, es war ein normales Viertel und ich lebte gern hier. Alles passte, nichts störte. Weiße Häuser, asphaltierte Einfahrten, flache Dächer mit Fernsehantennen, Dahlien in den Vorgärten und kunstvoll geschnittene Buchsbaumhecken. Ich versuchte, das alles mit Ksüs Augen zu sehen. Und dann fiel mir auf, dass die riesigen Bäume fehlten, die die kurvigen Straßen in Ksüs Gegend beschatteten. Die letzte hohe Tanne in unserer Straße hatte der Nachbar ein paar Häuser weiter gefällt, noch bevor die allgemeine Verordnung erlassen wurde, die alle Bäume über anderthalb Meter aus Sicherheitsgründen verbot. Dafür hatten wir rosenumrankte Pergolas vor Garageneinfahrten und diverse Hochstämmchen: Stachelbeeren, Johannisbeeren, Birnen und Äpfel, die aussahen wie schlafende Flamingos – unten ein dünner Stamm, oben die runde Krone mit den Früchten.
»Das ist aber sauber hier«, sagte Ksü.
»Ist das schlimm?«
»Wer sorgt denn alles dafür?«
Ich dachte nach. »Wir alle«, sagte ich schließlich. »Jeder fegt vor seiner Haustür und die Straßen übernimmt die städtische Reinigung. Aber die müsste doch auch bei euch vorbeikommen.«
»Fegst du selber auch?«
»Ich? Nein.« Ich hatte schon meinen Vater, unseren Gärtner, meine Großmutter und sogar einmal meine nicht gerade putzwütige Mutter die Garageneinfahrt fegen sehen, war aber noch nie auf die Idee gekommen, dass dieser Vorgang etwas mit mir zu tun haben könnte.
»Hier schneidet man aber gern an Pflanzen rum«, bemerkte Ksü. Allmählich begann es, mich zu nerven. Ich hatte hier fünfzehn Jahre lang glücklich gelebt und keinen Schaden erlitten. Und ich war nach dem Besuch bei Ksü ganz schön froh, dass bei uns wenigstens keine Ratten aus den Mülltonnen sprangen. Das Wappentier unseres Viertels war der Mops, gelegentlich vertreten von kaffeefarbenen französischen Bulldoggen. Als ich klein war, hatte ich mir inbrünstig einen Mops gewünscht, aber keinen bekommen, weil meine Mutter keine Hunde mochte. Ich hatte nach jedem Geburtstag geweint, weil ich immer noch keinen Mops hatte. Ein Mops hatte ein freundlich-rührendes Gesicht, seidiges Fell und roch nach Shampoo. Man konnte ihn mit ins Bett nehmen, weil er so sauber war. Irgendwann wurde ich älter und der Herzenswunsch verblasste.
Es war gut und schlecht gleichzeitig, dass gerade niemand in unserer Sichtweite einen Mops oder eine Bulldogge Gassi führte. Gut, weil niemand Ksü anglotzen konnte. Schlecht, weil ich ihr gern gezeigt hätte, dass wir den Ratten etwas viel Charmanteres entgegenzusetzen hatten.
»Und stehen am Wochenende immer Leute mit großen Scheren im Garten und schnippeln an ihren Pflanzen herum?«
»Woher weißt du das?« Wie Ksü die Dinge formulierte, nervte mich zunehmend. Ich sah überhaupt nichts Falsches darin, für ein bisschen Ordnung im Garten zu sorgen. Mir wäre auch lieber gewesen, meine Mutter hätte sich etwas mehr drum gekümmert. Mein Vater hatte drunter gelitten, dass wir trotz seiner Stellung und des gelegentlichen Einsatzes seiner Mutter und eines Gärtners das freakigste Grundstück der Straße hatten.
»Ist das ein Troll zum Schutz vor bösen Geistern?« Ksü deutete über den Zaun.
Ich sah sie an, aber sie schien nicht zu scherzen.
»Es. Ist. Nur. Ein. Gartenzwerg.« Jetzt wurde ich sauer.
»Und Unkraut, wo ist euer Unkraut?« Ksü gab keine Ruhe und ich wünschte, sie würde schneller fahren, damit wir endlich ankamen.
»Was ist Unkraut?«, fragte ich zurück.
»Löwenzahn zum
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