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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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Deswegen war ich erstaunt über die nackte, blinde Angst, die das Gesicht meines Vaters in Beschlag nahm. Es war ihm immer noch nicht wieder eingefallen, dass ich seine Tochter war, dass ich ihn liebte, dass mir gerade irgendein Blödsinn rausgerutscht war, den kein normaler Mensch hätte ernst nehmen können.
    Mein Vater und meine Großeltern nahmen das ernst. Das sah ich an der Panik in ihren Augen.
    »Ich will den Schlüssel haben«, sagte ich leise. Ich fühlte mich ganz matt. »Den Schlüssel zu Mamas Atelier. Sofort.«
    Und mein Vater antwortete ähnlich erschöpft: »Den kannst du nicht haben. Die Polizei hat das Schlafzimmer und das Atelier abgesperrt und den Schlüssel wieder mitgenommen.«
    Ohne meine Familie noch einmal anzusehen, setzte ich mich in Bewegung und ging in mein Zimmer hinauf. Schloss die Tür hinter mir ab und ging hinüber zu meinem Quadrum.
    Es war noch da. Ich streichelte seinen schlichten Holzrahmen, der merkwürdig warm war. Ich war sehr glücklich, dass es noch an seinem Platz hing. Ohne mich auszuziehen oder ans Zähneputzen zu denken, legte ich mich aufs Bett. Von hier aus konnte ich das Quadrum gut sehen. Es war alles ruhig darauf, ich konnte nichts hören. Bloß das karierte Küchentuch über dem Geländer war gegen ein anderes, geblümtes, ausgetauscht worden.
    Während ich darüber nachdachte, schlief ich mit einem Gefühl von Glück und Geborgenheit ein. Es war vollkommen unklar, woher es in dieser katastrophalen Zeit kommen konnte. Ich nahm es einfach dankbar an.

Der Gebührenkatalog für kleine Gefälligkeiten
    Am Morgen gab es einige Sitzplätze im Schulbus, aber ich blieb stehen. Die Gesichter meiner Mitschüler kamen mir mit einem Mal unsympathisch vor, ihre Manieren aufgeblasen. Dabei hatte ich sie vor dem Verschwinden meiner Mutter noch völlig in Ordnung gefunden. Ich war auch so gewesen.
    Aber inzwischen hatte sich alles geändert. Ich wusste, dass ich anders war. Und dass die meisten meiner Mitschüler mir mit Abscheu begegnen würden, wenn sie die Wahrheit über mich wüssten.
    Ich freute mich auf Ksü, auf ihre fröhliche Art, sich danebenzubenehmen, ihren völligen Verzicht auf Schein und Getue. Ich hatte ihr einiges zu erzählen und noch viel mehr Fragen. Eigentlich kamen stündlich neue hinzu und der Berg des Unerklärlichen wuchs in den Himmel.
    In der ersten Lerneinheit wartete ich vergeblich auf Ksü. Sie kam nicht. Entweder sie hatte verschlafen oder sie war krank. Oder … vielleicht kam sie gar nicht mehr?
    Ich fühlte, wie sich eine neue Sorge über mir zusammenschlug: Dass Ksü vielleicht aus meinem Leben so abrupt verschwinden könnte, wie sie gekommen war. Ich erinnerte mich daran, wie sehr ich mich am Anfang über sie geärgert hatte. Das war gerade mal drei Tage her.
    Ksü konnte während des Unterrichts mit ihrem Bruder kommunizieren. Wenn ich bloß einen Zugang nach draußen gehabt hätte! Aber mir fehlte nicht nur der, ich hatte nicht einmal Ksüs Adresse, nicht die ihres Messengers, keine Telefonnummer. Ich hatte gar nichts. Und den Lernbegleiter zu fragen, wo sie abgeblieben war, das konnte ich gleich vergessen. Am Lyzeum fragte man nicht nach abwesenden Mitschülern. Wenn Ksü von heute an nicht mehr kommen würde, hätte ich keine Chance, sie wiederzufinden.
    Vielleicht war es genau das, was mein Vater immer gemeint hatte. Was zeichnete einen Normalen aus? Seine Verlässlichkeit. War Ksü normal? Blöde Frage, so wie sie aussah, konnte sie auf keinen Fall normal sein, auch wenn ich mir am Anfang das Gegenteil eingeredet hatte. Andererseits hätte sie sonst kaum auf das Lyzeum gehen können. Ich hätte darauf achten sollen, ob sie ein Armband trug. Ich hätte sie direkt danach fragen müssen, aber ich hatte immer nur von mir geredet.
    Es war ein trüber, dumpfer Tag ohne besondere Vorkommnisse, ungefähr bis zum Mittagessen. Ich schlurfte in die Kantine. Mir war es egal, ob ich heute, wenn Ksü nicht da war, ganz allein essen musste oder ob jemand sich vielleicht zu mir setzen oder mich an seinen Tisch winken würde.
    So bewegte ich mich zwischen den Plastiktischen zur Essensausgabe, den Kopf gesenkt. Ich badete in Selbstmitleid, als mir jemand heftig auf die Schulter schlug und mich damit fast aus dem Gleichgewicht brachte.
    Ich drehte mich langsam um. In dieser kurzen Zeit kämpfte in mir der Ärger über die Unverschämtheit (Schulregel Nummer einundzwanzig: »Wir fassen unsere Mitschüler ohne Not niemals an«) mit dem Gefühl von jäher

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