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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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Aber was sollte ich genau damit anfangen? Ich fürchtete, dass es von nun an nicht mehr so einfach sein würde.

Zero
    Als mein Vater am Abend nach Hause kam, war Ksü noch da. Wir hatten uns wieder in meinem Zimmer eingeschlossen. Wir sprachen nicht viel, jede in ihre Gedanken vertieft. War meine Mutter freiwillig gegangen oder hatte jemand sie gezwungen zu verschwinden? Ich hatte auf Ksüs stumme Frage nur genickt – ja, ich hatte den Namen des Anwalts. Über das, was ich in der Mappe sonst noch gelesen hatte, wollte ich nicht reden. Noch nicht.
    Ksü fragte nicht weiter. Sie lockte die kleine Katze mit Papierkügelchen und ich sah den beiden zu. Ich hatte immer noch keine Ahnung, was ich mit dem Tier anstellen sollte. Ksü sagte, sie könne das Kätzchen zu sich nach Hause mitnehmen, aber wir waren uns beide nicht sicher, ob das eine gute Idee war. Ob das Tier nicht irgendwie verbunden war mit dem Quadrum oder mindestens mit diesem Haus.
    Oder mit mir.
    Als ich aus meinen Gedanken auftauchte, hörte ich die Stimmen der Zwillinge in ihren Zimmern.
    »Komm«, sagte ich zu Ksü. »Du musst meine kleinen Geschwister kennenlernen, damit du nicht denkst, unsere ganze Familie ist ekelhaft.«
    Wahrscheinlich rechnete sie jetzt trotzdem mit dem Schlimmsten. Sie sah richtig eingeschüchtert aus, als ich sie an der Hand packte und die Tür zu Kassies Zimmer öffnete. Kassie saß auf dem Teppich, ich konnte nicht genau erkennen, was sie gerade tat. Sie machte eine ruckartige Bewegung, als würde sie etwas vor uns verstecken.
    »Was machst du da?«, fragte ich.
    »Gar nichts.« Kassie lachte mir ins Gesicht. Dann schaute sie auf Ksü, neugierig, aber nicht sonderlich aufgeregt. »Kenn ich dich?«
    Ksü ging vor ihr in die Hocke und nannte ihren Namen.
    »Komischer Name«, sagte Kassie, aber es klang nicht gemein, sondern ehrlich und nett. Kassies Arm schnellte in die Höhe, sie berührte die Schlange auf Ksüs Schädel. Ich zuckte zurück – ich hätte mich so etwas niemals getraut.
    »Wo hast du das her?«
    »Ist eine komplizierte Geschichte«, sagte Ksü.
    »Sieht toll aus. Ist es gefährlich, das anzufassen?«
    »Das hättest du zuerst fragen sollen«, mischte ich mich gereizt ein. »Es ist eine Tätowierung.«
    »Was ist eine Tätowierung?« Kassie fuhr mit dem Finger die Konturen der Schlange nach, den Mund leicht geöffnet, die Stirn in Falten gelegt.
    Und dann sah ich an ihrem Pullover etwas Gelbes hängen, zupfte es herunter und starrte es an. Kassie sah augenblicklich ertappt aus.
    »Was ist das?«, fragte ich.
    »Eine Feder«, sagte Kassie kleinlaut.
    »Eine Feder?! Das sehe ich! Eine Feder an deinem Pullover, den du heute sauber angezogen hast! Das ist doch Zeros Feder. Ist Zero zurückgekommen?«
    »Nein, also, ich glaube nicht.« Kassie rückte von mir weg, setzte sich mit dem Rücken zu ihrem Bett, sah zur Seite.
    Aber ich war ja nicht blöd. Zumindest nicht mehr so blöd wie früher. Ich ging in die Knie und schaute unter das Bett. Ich entdeckte ihn sofort, er hockte neben der Wand, ein kleines Knäuel, ich streckte ihm die Hand entgegen und er krallte sich sofort an meinem Zeigefinger fest.
    »Du hättest mir sagen sollen, dass Zero wieder da ist«, sagte ich. Nur Ksüs Anwesenheit hinderte mich daran, meine Schwester an den Schultern zu packen und durchzuschütteln. »Ich mach mir doch Sorgen um ihn!«
    »Entschuldigung«, sagte Kassie leise. »Ich … ich dachte …«
    »Ist doch gut, dass er da ist«, mischte sich Ksü ein, aber sie hatte ja auch keine Ahnung. Sie wusste nicht, wie sehr Zeros Verschwinden mit dem von meiner Mutter zusammenhing, dass ich sie beide am gleichen Morgen zum letzten Mal gesehen hatte. Was es für mich bedeutete, dass der Vogel wieder da war. Kassie hätte mir sofort Bescheid sagen müssen.
    Kassie hatte Glück: Wir hörten das Auto unseres Vaters die Einfahrt hochkriechen, das Garagentor aufgehen. Ich musste die Strafe verschieben.
    »Mein Vater ist da«, sagte ich zu Ksü. »Komm.«
    Ich wollte Kassie, die Lügnerin, nicht länger ansehen. Dann schon lieber meinen Vater. Ich freute mich bereits auf seinen Gesichtsausdruck.
    Ksü verließ das Zimmer meiner Schwester mit sichtlichem Bedauern, hier hatte sie sich offenbar sicher gefühlt. Bevor sie rausging, zwinkerte sie Kassie zu. Kassie lächelte.
    Mein Vater kam ins Haus und für einen Augenblick dachte ich, er sieht eigentlich gut aus, er ist groß und hat einen gut sitzenden Anzug an, aber früher war er schöner, netter,

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