Spiegelkind (German Edition)
Haare.
»Juli, wenn jemand aussieht wie ein Freak, sich bewegt wie ein Freak und redet wie ein Freak, dann muss er ein Freak sein. Du musst dich nicht gegen das Offensichtliche sperren. Sie ist nicht normal. Begreif das doch endlich.«
Ich schwieg betreten. Ich musste irgendwie widersprechen, aber mir fielen keine Argumente sein. Was, wenn mein Vater recht hatte? Bei der Vorstellung drehte sich mir der Magen um.
Mein Vater beobachtete mich aufmerksam. Der Ekel in meinem Gesicht war ihm nicht entgangen.
Doch dann dachte ich daran, was ich in den letzten Tagen erfahren hatte. Dass meine Mutter nicht normal war. Dass ich vielleicht auch nicht normal war. Was, wenn ich genauso wenig Ahnung über Freaks hatte wie über Pheen? Hatte Ksü nicht gesagt, der Anwalt meiner Mutter sei auch ein Freak?
»Ich weiß, dass auch Freaks Karriere machen können«, bluffte ich und es ging voll auf. Mein Vater schnaufte empört. »Karriere!«
Ich wartete.
»Was auch immer man Karriere nennt!« Mein Vater schüttelte den Kopf.
»Eine Karriere ist eine Karriere.« Ich bluffte gnadenlos weiter. »Viel Geld, beste Reputation.«
»Auf unsere Kosten!« Mein Vater schlug mit der Faust auf den kleinen Beistelltisch und das täuschend echt aussehende Kunstveilchen, das darauf stand, erzitterte mit all seinen Blättern. »Sie ziehen uns ständig in den Dreck, aber wenn sie zu etwas Wohlstand und Ansehen gekommen sind, schicken sie ihre Kinder an unsere Universitäten und machen uns später die Arbeitsplätze streitig!«
»Ach was?« Ich horchte auf. Das war ja ganz neu. Freaks als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt – das passte nicht zu der Vorstellung, die ich bislang von ihnen gehabt hatte. Aber es passte dazu, dass der Anwalt meiner Mutter ein Freak war.
»Dann ist doch alles gut.« Ich wusste jetzt genau, mit welchen Worten ich meinen Vater zur Weißglut treiben konnte. »Freaks, die resozialisiert wurden, die wertvolle Mitglieder der Gesellschaft sind, arbeiten und Einfluss haben – das ist doch der Traum eines jeden Sozialarbeiters.«
Mein Vater stöhnte. »Das hat dir bestimmt dieses … Mädchen eingebläut? Glaub doch nicht so was, Juliane. Ein Freak bleibt ein Freak. Sie sind so gefährlich, weil sie eben anpassungsfähig sind. Wie Viren infizieren sie uns und zerstören die Gesellschaft von innen. Sie tun so, als könnten sie mit uns zusammenleben. Aber wo immer es geht, versuchen sie, die Normalität zu unterwandern.«
»Aber wenn sie doch Karriere machen.« Das Gespräch machte mir fast schon Spaß.
»Begreif es endlich.« Mein Vater sah mich verzweifelt an. »Freaks kann man nicht trauen. Sie sind Zeitbomben für jede Normalität, auch dann, wenn sie zufällig einen guten Job ergattert haben.«
»Das klingt ja, als wären sie noch gefährlicher als Pheen!«
Auf der Stirn meines Vaters pulsierte eine Ader.
»Es ist wie mit Pest und Cholera.« Er suchte nach Worten. »Die Pheen sind anders. Die Pheen sind … krank! Die Pheen sind … verrückt! Die Pheen können … schlimme Dinge tun. Aber sie sind eben so geboren.«
»Und die Freaks?«
»Die Freaks nicht.« Papa klang erschöpft. »Sie können nichts von dem, was Pheen vermögen. Freaks sitzen zwischen den Stühlen. Sie haben es zu ihrer Lebenseinstellung hochstilisiert, nicht normal zu sein. Sie leben in der normalen Gesellschaft und einige von ihnen tun so, als würden sie die Regeln akzeptieren. In Wirklichkeit machen sie es sich zur Wissenschaft, alles zu unterwandern, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. Und sie sind alle scharf auf Pheen. Sie schielen auf die Fähigkeiten der Pheen, erklären sie zu ihren Gottheiten. Versuchen, sie zu schützen und zu päppeln und auch auszunutzen. Bloß können die Pheen keine Gesellschaft bilden, weil sie nicht sozialisierbar sind. Sie wollen auch keine Gesellschaft, sie leben jede für sich. Sie interessieren sich nicht für Freaks, weil sie sich eigentlich für niemanden interessieren. Deswegen halten sich die Freaks an uns.« Mein Vater machte eine Pause und schlug wieder mit der Faust auf den Tisch. »Sie leben mit uns. Und machen sich über uns lächerlich! Immer, wo es nur geht! Nutzen unsere Schulen, Krankenhäuser und Universitäten! Die Ämter und das Straßennetz! Und halten sich trotzdem für klüger! Tun so, als wären sie so nett, und werfen sich nur an die Pheen heran. Vertreiben heimlich ihre Kunst, ihre verbrecherische Kunst! Tun alles, um uns leiden zu sehen!«
Mir schwirrte der Kopf.
Mein
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