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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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liefen wir die Treppe hinunter. Einen Moment später hatten wir uns wieder in meinem Zimmer eingesperrt und dort kam mir endlich eine Idee, die mich voranbringen würde.
    Es war leicht. So leicht, dass es mir fast verdächtig vorkam.
    Von dem Fenster meines Zimmers aus beobachtete ich meine Großmutter im Garten. Sie legte gerade die Gartenschere beiseite und kniete sich vor die Blumenbeete.
    Seit meine Mutter weg war, hatte sich der Garten verändert. Die Sträucher waren genauso zurechtgestutzt wie alle anderen in der Straße. Die Beete sahen aufgeräumt aus, die Stauden standen wie Soldaten. In meinen Augen war die Erde um die Blumen herum bereits komplett nackt, aber Ingrid erspähte hinter ihrer Brille winzige Unkrauttriebe und riss sie zielsicher aus.
    In dem Moment hörte ich die Haustür klappen. Ingrid hob den Kopf und ich spürte förmlich, wie sie erstarrte.
    »Kann ich helfen?« Ksüs muntere Stimme hörte ich bis hier oben. Sie hatte ihr Gleichgewicht wiedergefunden, ganz im Gegensatz zu meiner Großmutter, die so aussah, als ob sie vor Schreck gleich ins Blumenbeet kippen würde. Wenn der Moment nicht so wichtig gewesen wäre, hätte ich ihn saukomisch gefunden.
    Aber der Plan von Ksü und mir sah vor, dass ich keine Zeit verlieren durfte.
    Schnell lief ich los.
    Im Arbeitszimmer meines Vaters sah es aus wie immer. Der Tisch war fast leer, es lagen nur wenige, säuberlich aufgestapelte Briefumschläge darauf. Es war kalt im Raum, mich fröstelte.
    Der Metallschrank, in dem mein Vater alle Dokumente aufbewahrte, war abgeschlossen. Ich öffnete die Schreibtischschublade, in der nach Farben aufgereiht Büroklammern lagen, daneben einige Schlüssel. Der erste, den ich mir griff, passte. Der Schrank ging quietschend auf, ich riss die Türen möglichst weit auf und steckte den Kopf hinein.
    Die strahlend orangefarbene Mappe fiel in der Reihe der Aktenordner sofort auf. Ich zog sie heraus. Auf der ersten Seite funkelte das Wort »Laura«. Froh darüber, nicht lange suchen zu müssen, schlug ich sie auf. Auf der ersten Seite war das Gerichtsurteil abgeheftet, drei Monate vorher datiert.
    Ich hatte das Richtige gefunden.
    Es waren über zehn dicht vollgeschriebene Seiten, ich überflog sie hastig. Und je mehr ich las, desto kälter wurde mir.
    Das Familiengericht hielt fest, dass bei der vollzogenen Scheidung sämtlicher in der Ehe erworbener Besitz, einschließlich unseres Hauses, des Grundstücks, aller Möbel und anderen Hausrats meinem Vater zufiel, ohne Ausnahme und ohne ein Recht auf Rückforderung. Laura Rettemi erklärte ihren Verzicht darauf, ebenso auf jeglichen Unterhalt und alle späteren Ansprüche.
    Mir blieb die Luft weg. Meine Mutter hatte immer nur zu Hause gearbeitet. Sie durfte ihre Quadren nicht verkaufen. Wovon sollte sie leben, wenn mein Vater ihr nichts abgab? Wovon lebte sie jetzt? War das die Art, eine Phee auszuhungern?
    Ich las weiter. Auf der vorletzten Seite stieß ich auf den Satz, in dem ziemlich umständlich erklärt wurde, dass, auch wenn Laura Rettemi keinerlei gesetzlichen Anspruch auf ein Sorgerecht für ihre Kinder Juliane, Kassandra und Jaroslav habe, die Eheleute zu einer freiwilligen Vereinbarung gekommen seien, sich dieses zu teilen. Die genaue Gestaltung des Umgangs lag im Ermessen der Eheleute und war vor Gericht nicht anfechtbar. Die Teilung des Sorgerechts konnte seitens Dr. Rudolf Rettemis jederzeit rechtskräftig zurückgenommen werden.
    Ich überflog das Dokument noch mal. Es gab mehrere Verweise auf die aktuelle Rechtslage und auf den »Status Laura Rettemis«. Das Wort Phee fiel nirgendwo, aber ich hatte das Gefühl, dass es trotzdem in jeder Zeile blinkte. Diese Frau ist eine Phee, man kann alles mit ihr machen. Wäre mein Vater einen härteren Kurs gefahren, hätte meine Mutter ihr Sorgerecht sofort verloren.
    Vielleicht war ich meinem Vater gegenüber unfair gewesen – er hatte mehr für meine Mutter getan, als er hätte tun müssen.
    Ich blätterte um. Auf der letzten Seite hatten meine Eltern unterschrieben. Dort fand ich endlich, wonach ich gesucht hatte.
    Der Anwalt meiner Mutter hieß Justus Melchior.
    Ich prägte mir den Namen schnell ein, bevor ich die Mappe zuklappte, zurück in den Schrank legte, die Tür wieder schloss und in den Garten lief, um Ksü zur beidseitigen Erleichterung aus Ingrids Gesellschaft zu befreien.
    Jetzt hatte ich eine wichtige Information und es hatte mich nur eine gute Idee und keine zehn Minuten gekostet, an sie ranzukommen.

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