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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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vorsichtig durch die Schlitze zwischen den zusammengekniffenen Augenlidern. Ich versuchte, mich am Bären festzuhalten, ohne zu sehr an seinem Fell zu zerren. Aber irgendwann vergaß ich jede Rücksicht und krallte mich mit aller Kraft fest.
    Der Bär wurde langsamer, sodass meine Augen wieder einzelne Bäume unterscheiden konnten. Dann blieb er ziemlich abrupt stehen. Wir waren an einer Lichtung angekommen. Ich kletterte von seinem Rücken herunter und fiel sofort auf die Wiese, meine Beine zitterten vor Anspannung.
    »Verrückter Bär«, flüsterte ich. »Wo hast du mich nur hingebracht.«
    Eine Minute lag ich mit dem Gesicht im weichen Gras. Dann stützte ich mich auf und schaute hoch. Ich blickte auf ein Haus aus Holzstämmen, das mir schmerzhaft vertraut vorkam, eine Veranda, das geblümte Küchentuch, einen Teller mit halb verschütteter Katzenmilch auf den Dielen.
    »Das kann nicht wahr sein«, flüsterte ich und kroch auf allen vieren zum Haus, immer noch unfähig, mich aufzurichten und normal zu gehen. Der Bär folgte in einigem Abstand, wahrscheinlich fand er mich jetzt auch etwas freakig.
    Ich hatte Angst, das Haus zu betreten. Irgendjemand lebte da drin. Wer wusste es besser als ich, die ich seit Jahren von meinem Bett aus auf dieses Haus geschaut hatte, den Stimmen zugehört. Der Hausbewohner würde sich wahrscheinlich nicht gerade freuen, wenn man seine Ruhe störte. Wer gern unter Menschen war, würde wohl kaum so einsam im Wald leben.
    Aber was blieb mir übrig? Ich richtete mich mühsam auf, setzte meine Füße auf die Holzstufen und ging ganz langsam die Treppe zur Haustür hoch.
    Ich stand in einer großen Wohnküche, die zum Teil von einem weißen Lehmofen ausgefüllt war. Auf dem Ofen brodelte etwas in einem Topf vor sich hin. Bündel von Kräutern hingen an den Wänden, dazwischen Küchenutensilien. Auf dem Tisch stand ein Teller mit winzigen roten Erdbeeren, die so süß dufteten, dass mir schwindlig wurde.
    Die Person, die hier wohnte, war sicher für einen Augenblick rausgegangen. Sie hätte den Topf sonst nicht kochend auf dem Herd gelassen, dachte ich. Ich hörte Schritte auf den Treppenstufen, mein Herz rutschte in die Hose. Ich musste schnell raus hier, aufwachen, bevor ich ertappt wurde. Ich rannte zum Fenster mit der breiten Fensterbank, riss es auf und sprang herunter.
    Und landete in Ksüs Küche.
    Ich hatte mir das Knie angeschlagen und hielt es fest, während ich auf den Holzdielen hockte, voller Verwirrung, wie ich hierhergekommen war. Hinter mir hing das Quadrum, auf dem während meines ersten Besuchs ein blond gelocktes Mädchen auf der Fensterbank gekniet hatte. Erstaunt stellte ich fest, dass das Mädchen jetzt weg war. Man sah nur den Fensterrahmen und dahinter den Wald.
    Ich starrte Ivan an, der am Küchentisch an seinem Notebook arbeitete und dem ich jetzt vor die Füße gepurzelt war. Auch ihm hatte es die Sprache verschlagen.
    »Hallo«, sagte ich, stand mühsam auf und lief rot an. »Entschuldigung …«
    »Wofür?« Ich hatte das Gefühl, noch eine Sekunde und Ivan würde in Lachen ausbrechen. Ich wäre an seiner Stelle wahrscheinlich schreiend weggerannt.
    »Dass ich hier so reinplatze …« Es war mir schon ziemlich peinlich, andererseits war ich auch glücklich. Es hätte schlimmer ausgehen können. Denn ich hatte ja genau hierher gewollt. Schließlich verzweifelte ich exakt aus dem Grund, dass ich Ksü nicht erreichen konnte. Und jetzt war ich nach einem seltsamen Traum auf wundersame Weise bei ihr zu Hause aufgewacht. Ich kniff mich ins Handgelenk, es tat richtig weh, ich hätte mir die Fingernägel längst feilen sollen.
    »War die Reise bequem?«, fragte Ivan höflich, als wären wir uns gerade mit je einem Glas Vitaminsekt in der Hand bei einem Stehempfang im Lyzeum begegnet.
    »Welche Reise?«, fragte ich. »Ach so. Keine Ahnung. Ich wollte Ksü sehen. Sie war heute nicht in der Schule.«
    »Ksü liegt mit Halsschmerzen im Bett und leidet wie ein Hund. Deswegen bin ich zu Hause geblieben«, sagte Ivan.
    Ich seufzte neidisch, weil ich keinen großen Bruder hatte, der mich jemals hätte pflegen können. Wobei ich auch nie krank wurde, aber trotzdem. Ich wollte auch jemanden, der sich um mich kümmerte, jetzt, wo meine Mutter weg war. Wo war jetzt eigentlich Ksüs Mutter? Ich konnte mir nicht länger einreden, dass sie die ganze Zeit im Solarium oder auf dem Tennisplatz war. Offenbar war Ksüs Familie noch schlimmer kaputt als meine, falls es überhaupt möglich

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