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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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wohl wissen. Erzähl mir endlich alles über Pheen.«

Alles über Pheen
    Wir redeten drei Stunden. Draußen war es dunkel geworden. Ksü hatte viermal frischen Tee aufgebrüht und irgendwann angefangen, den Tisch zum Abendessen zu decken. Ich schaffte es, einen Schreckensschrei zu unterdrücken, als die Geräusche drei graubraune Ratten in die Küche lockten, die sofort begannen, um Ksüs Füße herumzuwuseln. Sie musste aufpassen, um nicht auf sie zu treten.
    Ivan pfiff die Ratten zurück. Erstaunt beobachtete ich, wie sie auf ihn hörten und sofort in seine Richtung liefen. Er schüttete Körner in winzige Näpfe auf dem Boden, die ich vorher übersehen hatte. Zwei Ratten begannen zu fressen, die dritte klammerte sich an Ivans Hosenbein und krabbelte zielstrebig hoch, bis sie irgendwann an seiner Brust angekommen war und in seinem Hemd verschwand. Nur die winzige Schnauze mit den zitternden Schnurrbarthaaren schaute zwischen den Knöpfen hervor.
    Ich sah verlegen zur Seite.
    »Musst du nicht langsam nach Hause?«, fragte Ivan. »Soll ich dich schnell hinfahren?«
    »Nein«, sagte ich. »Nach Hause gehe ich nicht mehr.«
    Ksü ließ die Butterdose fallen. Ivan blinzelte. Ich hatte das Gefühl, selbst die Ratte in seinem Hemd guckte erstaunt.
    »Was war das eben?«, fragte Ksü.
    Ich war selber überrascht von dem, was ich sagte.
    »Ich kann nicht mehr zu ihnen zurück. Nach allem, was sie meiner Mutter angetan haben. Ich bin sicher, mein Vater und meine Großeltern haben irgendwas mit ihrem Verschwinden zu tun. Ich hasse sie. Sie sind grausam und verlogen.«
    »Sie sind deine Familie, Juli«, sagte Ksü leise.
    »Das ist ja das Problem.« Ich warf den Kopf zurück, damit die Tränen zurück unter meine Augenlider flossen.
    »Wo willst du dann leben?«, fragte Ivan sachlich.
    Ich sah ihm ins Gesicht. Ich musste es aussprechen, bevor mich der Mut verließ. »Hier bei euch. Wenn ich darf.«
    Ksü klatschte in die Hände. »Oh ja, das wäre wunderbar! Wir haben genug Zimmer! Was für eine tolle Idee! Ivan, jetzt sag doch auch mal was.«
    Ivan schwieg.
    »Wenn ich euch lästig bin, dann gehe ich natürlich sofort«, sagte ich.
    »Ach Quatsch!«, sagte er. »Du bist hier niemandem lästig. Aber du bist noch minderjährig, Juli. Ich glaube nicht, dass dein Vater sich das gefallen lässt.«
    »Ich bin fünfzehn. Andere müssen in meinem Alter …«
    »Diese anderen sind keine besseren Töchter aus glücklichen normalen Familien.« Ivan hielt kurz inne, offenbar wurde auch ihm bewusst, dass er keine besonders passende Beschreibung meiner aktuellen familiären Situation gewählt hatte. »Wie auch immer, du wirst im Gegensatz zu Ksü erst mit einundzwanzig volljährig. Bis dahin ist dein Vater dein gesetzlicher Vormund.«
    Ich horchte auf. »Wird Ksü etwa nicht mit einundzwanzig volljährig?«
    »Ksü mit achtzehn. Unsere Eltern haben das bei ihrer Geburt so festgelegt.«
    »Das ist aber mit zweierlei Maß gemessen!«, protestierte ich.
    »Was du nicht sagst.« Ivan hatte einen spöttischen Zug um den Mund.
    »Man muss es eben so drehen, dass mein Vater nichts dagegen machen kann«, sagte ich.
    »Kannst du dir nichts überlegen, Ivan? Du bist doch selber fast ein Anwalt!«, verlangte Ksü.
    »Anwalt?« Ich dachte, ich hätte mich verhört.
    »Ich studiere noch«, sagte Ivan.
    »Aber du bist einer der Besten deines Jahrgangs.« Ksü kniff ein Auge zusammen und richtete einen Teelöffel auf ihren Bruder.
    Ivan winkte ab.
    »Und was willst du später werden?«, fragte ich misstrauisch.
    »Pheen-Anwalt!«, rief Ksü begeistert.
    »Toll«, sagte ich mit hölzerner Stimme. »Dann lernst du vielleicht sogar auch diese … Pheenkunde?«
    »Im Nebenfach«, sagte Ivan.
    »Und du weißt alles über alle Gesetze?«
    »Nicht alles über alle.« Er drehte einen Stift in den Fingern. Die Ratte in seinem Hemd verfolgte die Bewegungen aufmerksam. Sobald Ivans Hand kurz innehielt, biss sich das Tier an einem Ende des Stifts fest. »Aber ich habe eine gewisse Vorstellung.«
    Ich schloss die Augen. Ivan studierte Pheenkunde. Er wusste vermutlich Antworten auf viele meiner Fragen. Aber statt mir die Wahrheit zu erzählen, hatte er mich mit ein paar kläglichen Informationen abgespeist.
    Ich stand auf und lief einmal um den Tisch, bis ich ganz dicht vor ihm stand, sodass mich fast die zitternden Schnurrbarthaare der Ratte in seinem Hemd berührten.
    »Ivan, ich bitte dich hiermit sehr dringend und ausdrücklich um deine Hilfe«, sagte ich.
    Ksü

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