Spiegelkind (German Edition)
alles, was mir widerfahren war – von den vermummten Männern, die Mamas Quadren beseitigen wollten, von einem Bären, der plötzlich im Zimmer stand und sie vertrieb, und wie ich mich auf einmal in einem Wald wiedergefunden habe und wenig später in Ksüs Küche auf dem Boden landete.
Ksü hörte mir mit angehaltenem Atem zu.
»Dann ist das alles wahr?«, fragte sie, als ich fertig war.
»Was?«
»Na, alles, was man so erzählt über die Pheenkunst.«
»Was jetzt genau?«, fragte ich.
Aber anstatt mir zu antworten, warf sie den Kopf zurück und brüllte aus vollem Hals: »Iiiiivaaaaan!«
Wir mussten nicht lange warten und Ivan stand in der Tür.
»Ich fass es nicht«, sagte er. »Dann ist das wirklich wahr.«
»Jetzt fang du nicht auch noch an«, sagte ich. »Müsst ihr beide immer in Rätseln sprechen?«
»Sie hat recht«, sagte Ksü zu Ivan. »Ivan, was ist los mit dir? Warum willst du Juli nicht helfen? Du könntest es doch.«
Ich blickte verwirrt von einem zum anderen. Was hatte ich jetzt schon wieder verpasst?
»Sie hat mich nicht darum gebeten«, sagte Ivan sanft. »Man darf seine Hilfe nicht aufdrängen. Du weißt, wie so etwas ausgehen kann.«
»Ich finde, sie hat dich sehr wohl darum gebeten, indem sie neulich beschrieben hat, wie schlecht es ihr gerade geht.«
»Ich möchte mich trotzdem nicht einmischen«, sagte Ivan stur. »Es war mir nicht eindeutig genug. Man soll sich nicht in Dinge drängen, die einen nichts angehen. Man macht sie nur schlimmer.«
»Wie edel von dir!« Ksü verdrehte die Augen. »Soll sie jetzt einen Kniefall vor dir machen, damit es eindeutig ist? Oder bist du einfach zu feige?«
»Halt!«, sagte ich, mich nervte es, wie sie über mich redeten. »Ich bin auch noch da.«
Bruder und Schwester drehten mir gleichzeitig ihre Köpfe zu und ich staunte darüber, wie ähnlich ihre Gesichter waren, unterschiedlich nur in der Augenfarbe. Inzwischen konnte ich nicht mehr verstehen, warum ich am Anfang so blind gewesen war und gedacht hatte, sie hätten nichts gemein.
»Entschuldige bitte, Juli«, sagte Ivan. »Das muss dir wirklich seltsam vorkommen.«
»Sorry«, murmelte auch Ksü.
»Erklärt es mir lieber«, verlangte ich.
»Was soll ich dir erklären?«, fragte Ivan so leise, als sollte nur ich ihn hören und nicht Ksü. »Wie kann ich dir etwas erklären, was du am besten selber weißt? Als Tochter einer Phee?«
»Ich weiß am wenigsten von allen«, protestierte ich. »Ich komm mir vor wie ein kleines Kind, vor dem Erwachsene Geheimnisse haben und immer so rätselhafte Andeutungen machen.«
»Das meine ich ja.« Ivan lehnte sich zurück und schaute nicht mehr mich an, sondern seine Schwester. »Siehst du, Ksü. Sie will das alles gar nicht wissen. Sie wehrt sich mit allen Kräften ihrer Psyche dagegen, mehr zu erfahren. Es kann sie keiner zwingen.«
»Wovon redet er?« Jetzt wandte ich mich auch an Ksü, ich fand es daneben, dass Ivan mich nicht direkt ansprach.
»Davon, dass du wahrscheinlich eine Phee bist«, sagte Ksü einfach. »Wie deine Mutter.«
»Nein«, sagte ich. »Nein, nein, nein. Ausgeschlossen.«
»Aber warum?«
»Weil ich stinknormal bin«, rief ich. »Ich bin eine dumme, feige, langweilige Normale. Wie mein Vater. Wie meine Großeltern.«
»Das hätte ein Normaler so niemals von sich behauptet«, sagte Ivan. »Und schon gar nicht mit diesen Worten. Dumm, feige, langweilig. Das sind keine normalen Vokabeln. Und übrigens auch nicht die von Pheen. Die Pheen kümmern sich nicht darum, ob sie feige oder cool auf andere wirken. Nur Freaks müssen es allen ständig beweisen. Pheen dagegen sind meist zu sehr versunken in sich selbst …« Er sah nachdenklich zur Seite.
Eine Phee, dachte ich. Ich eine Phee? So rein theoretisch? Von den einen bewundert, von den anderen verachtet und gefürchtet. In der Gesellschaft der Normalität ist eine Phee praktisch rechtlos. Wäre ich eine, wäre es bei mir auch so. Spätestens dann würden sie mir mein Armband wegnehmen mit der Nummer, auf die ich immer so stolz war.
Ich stellte es mir für eine Sekunde vor. Wie sähe dann meine Zukunft aus? Wenn eine Phee ihren Neigungen entsprechend arbeitet, darf sie die Ergebnisse niemandem zeigen. Eigentlich hat sie permanent Berufsverbot. Sie muss sich verleugnen, um zu überleben. Sie muss sich verstecken, damit ihr nichts noch Schlimmeres passiert.
Wo verstecken?
Und was heißt eigentlich – noch Schlimmeres?
»Ivan«, sagte ich. »Du irrst dich. Ich will es sehr
Weitere Kostenlose Bücher