Spiegelkind (German Edition)
ich mich um sie kümmern. Aber ich hätte so gern jemanden, der sich um mich kümmert, so richtig. Meine einzige Freundin ist heute nicht in die Schule gekommen und dabei ist sie die Einzige, mit der ich sprechen kann. Wir haben nicht mal Telefonnummern ausgetauscht, wozu auch, wenn man sich jeden Tag sieht. Aber jetzt haben wir uns irgendwie wieder verloren. Ich vermisse Ksü und mache mir Sorgen um sie. Aber vielleicht hat sie einfach keine Lust mehr, mich zu sehen. Vielleicht lässt sie mich genau in dem Moment fallen, in dem ich sie am dringendsten brauche. So, wie Papa es vorhergesagt hat. Oder doch nicht?«
Der Bär rieb seinen großen Kopf an meinem Oberarm.
»Hast du eine Idee, was ich jetzt tun kann, Bär?«
Ich fand mich selber dumm und kindisch, mich so mit einem Tier zu unterhalten, und auch noch mit einem, das von meiner Mutter gemalt worden war. Andererseits hatte ich noch nie einen echten Bären gesehen und dieser da atmete warme Luft in mein Gesicht, schnaufte, roch nach Kompost und rohem Fleisch und sein großer plüschiger Brustkorb bewegte sich wenige Zentimeter von mir entfernt. Der Bär schubste mich mit der Schnauze an. Ich fiel fast um.
»He, pass doch auf.«
Er ließ nicht locker. Er wollte irgendwas. Ich kam wieder auf die Beine, richtete mich auf. Der Bär war wirklich groß. Zielstrebig schubste er mich zur Staffelei, auf der noch ein Quadrum stand, das meine Mutter nicht fertig gemalt hatte.
Ich stolperte wieder. Mein Stammeln kümmerte das wilde Tier nicht.
»Was willst du von mir?«
Auf der Leinwand war ein Wald, der nach Farbe und Lösungsmitteln roch, ein Pfad, der sich in die Tiefe des Quadrums schlängelte. War hier irgendwo eine Botschaft von meiner Mutter versteckt? Wenn, dann konnte ich sie nicht erkennen. Ich bückte mich und berührte den bemalten Stoff mit der Nasenspitze. Ich schrie auf, als der Bär mir von hinten einen gewaltigen Stoß versetzte und ich mit dem Kopf direkt in die Leinwand flog und gerade noch denken konnte, dass ich sie jetzt durchstoßen und das ganze Quadrum ruinieren würde.
Durch das Fenster
Und dann landete ich ausgestreckt wie ein Seestern, aber nicht mehr auf dem Teppich, der die Fliesen von Mamas Atelier bedeckte. Wir hatten überall im Haus Fliesen, weil man sie so gut putzen konnte. Doch nun war etwas Weiches, Nachgiebiges unter mir, das nach modriger Feuchtigkeit roch, frisch und faulig gleichzeitig.
Ein Waldboden.
Ich stellte mich mühsam auf alle viere, dann kniete ich mich hin, klopfte die Erde von meinen Handflächen. Ich war im Wald. Der Wald lebte, er rauschte, der Wind raschelte in den Baumkronen. Ich hockte auf dem Trampelpfad, der an den Seiten mit hohem Gras bewachsen war. Die Grashalme hatten silbrige pinselartige Köpfe.
»Mamas Wald«, sagte ich laut. Es musste ein Traum sein. Keine Wirklichkeit.
Etwas Großes und Warmes lehnte sich von hinten gegen mich. Ich drehte mich um und vergrub die Nase im Bärenfell. Wenn ich schon träumte, brauchte ich keine Angst vor diesem Bären zu haben. Wenn er mich zerfetzen sollte, dann würde ich immer noch heil aufwachen. Ich hatte bestimmt unzählige Leben, wie bei einem Computerspiel.
»Genau das hast du gewollt? Dass ich hier lande?«
Der Bär grummelte. Ich stand auf, klopfte mir die Erde von der Strumpfhose, legte eine Hand auf den Bärenkopf.
»Und jetzt?«
Der Bär legte sich langsam und schwerfällig auf den Boden.
»Was hast du?«
Er schien auf etwas zu warten. Sah mich mit seinen schwarzen Augen an.
»Du willst, dass ich aufsteige?«
Und da er nicht protestierte, kletterte ich auf ihn und versuchte, mich festzuhalten. Wenn schon mitspielen, dann richtig.
Ich dachte, so ein Bär würde sich nur langsam bewegen. Aber dieser lief schnell. Und er konnte springen – so, dass ich einen Krampf in den Oberschenkeln bekam, weil ich mich so verzweifelt an den Bärenkörper klammerte, um nicht runterzufallen. Meine Muskeln schmerzten und ich vergaß sofort, dass es nicht mein echter Körper sein konnte.
Der Bär wusste genau, wo er hinwollte, so zielstrebig eilte er voran. Ich hoffte nur, dass ich da auch hinwollte. Eine Wahl hatte ich jedenfalls nicht.
Ich war lange nicht mehr in einem Wald gewesen, überhaupt fand ich Wälder ein wenig gruselig. Und auf einem Bären zu reiten, davon träumte ich nun wirklich zum ersten Mal.
»Pass ein bisschen auf, Bär«, flüsterte ich mit frierenden Lippen – der Wind wehte mir ins Gesicht, ich konnte nichts sehen, spähte nur
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