Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
Vom Netzwerk:
zusammenhielt.
    Irgendwas war hier faul.
    Außer Atem kam ich an meiner Haustür an. Sie stand offen. Das war sehr ungewöhnlich. Ein winziger Funke Hoffnung mischte sich in meine Angst.
    »Mama?« Wahrscheinlich würde ich mich noch in fünfzig Jahren verzweifelt an dieses Wort klammern, dachte ich, während ich weiter nach ihr rief.
    Vergeblich. Sie antwortete mir nicht. Sie war nicht da.
    Die unteren Stockwerke waren leer, aber ich hörte Stimmen weiter oben. Ich rannte die Treppe hoch, in das Geschoss mit den Kinderzimmern, an meinem Zimmer vorbei, bis ich auf dem Dachboden angekommen war und dort, vor der Ateliertür, mit zwei wildfremden Männern und Ingrid zusammenstieß. Einer der Männer kniete vor der Tür und schaute mit einem Auge ins Schlüsselloch. Beide trugen Overalls, Masken und Handschuhe. Sie erinnerten mich an Hundefänger, die ich einmal im Zentrum gesehen hatte.
    »Was tun Sie hier?« Vor Wut darüber, dass sie etwas mit der Tür meiner Mutter machen wollten, vergaß ich erst meine Angst und dann den Rest meiner Erziehung.
    »Seltsam, die Tür geht einfach nicht auf. Wer hat sie das letzte Mal abgeschlossen?«, sagte einer der Männer, ohne mich zu beachten.
    »Ich!«, sagte ich automatisch.
    Alle drei drehten ihre Köpfe zu mir.
    »Eine Phee?«, fragte der Mann, mit dem dicken Zeigefinger auf mich deutend.
    »Natürlich nicht!«, antwortete Ingrid eine Spur zu eilig. Und zu mir: »Meinst du, du könntest die Tür noch mal aufmachen?«
    »Wozu?«, fragte ich. »Das gehört meiner Mutter. Die Tür und auch alles, was dahinter ist.«
    »Jetzt mach schon«, sagte einer der Männer ungeduldig.
    »Tu, was der Mann sagt, Juliane.« Meine Großmutter rang die Hände.
    Ich sah in ihr Gesicht, schmale, schimmernde Wangen, einige Härchen über der Oberlippe, das linke Augenlid konnte nicht mehr aufhören zu zucken, genau wie bei meinem Vater. Ingrid sah mir nicht in die Augen. »Es ist für uns alle. Die netten, fachmännisch geschulten Herren von der Diskreten Beseitigung verbotener Kunst machen den Raum schnell sauber. Das ist viel besser, als wenn dann das Sonderkommando der Polizei« – Turbozucken des Augenlids – »kommt und das macht.«
    »Viel besser«, bestätigte einer der Männer. »Wir sind diskret, das werden die anderen nicht sein. Und wir arbeiten sauber. Wir sind jeden Cent wert.«
    Ich sah ihn an. Er hatte ein fliehendes Kinn und Augen, die genau wie Ingrids meinem Blick auswichen.
    »Es ist wirklich besser, wir erledigen das jetzt ganz schnell, Julchen«, sagte Ingrid.
    »Wir wollen ja nur gucken«, sagte der Mann lispelnd in meine Richtung.
    Ingrid nickte eifrig. »Genau. Machst du bitte schnell die Tür auf.«
    Sie log so ungeschickt, dass es fast schon komisch war. Hätte sie sich etwas Klügeres einfallen lassen, hätte ich es viel schwerer gehabt, mich ihrer Aufforderung zu verweigern. Ich war es nicht gewohnt, Erwachsenen zu widersprechen. Es war fast wie ein Reflex – zu tun, was einem gesagt wurde. Aber gehorchen konnte ich jetzt trotzdem nicht mehr.
    »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit«, näselte einer der Männer bedrohlich in Ingrids Richtung.
    Ich rührte mich nicht.
    »Eine Phee, sieht man sofort«, sagte einer der Männer.
    »Nein!«, rief Ingrid aus. Ihre hohe, panische Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken.
    Einer der Männer kam näher. Ich wich automatisch zurück. Sein Schweiß hatte einen beißenden chemischen Geruch. Sicher war die Deo-Produktpalette von HYDRAGON komplett an ihm vorübergegangen. Seine Finger schlossen sich um meinen Oberarm.
    »MACH.«
    Ich musste mich zusammenreißen, um ihm nicht auf die Schuhe zu kotzen. Meine Großmutter stand daneben und schaute zu.
    Ich durfte meine Angst nicht zeigen.
    »Ich habe keinen Schlüssel«, sagte ich möglichst ruhig. Das war nicht einmal gelogen. Das letzte Mal hatte ich das Atelier mit Ksüs Schlüsselbund abgeschlossen und der war jetzt eben irgendwo bei Ksü. Ksü, die nun auch spurlos verschwunden war.
    Die Männer grunzten, als hätte ich etwas unglaublich Komisches gesagt. Der Griff um meinen Oberarm wurde endlich gelöst und vor meiner Nase tauchte ein viel zu großer, rostiger Schlüssel auf.
    »Nimm den.«
    Ich entspannte mich sofort. Damit würde ich die Tür nie im Leben aufkriegen. Ich zuckte mit den Schultern, nahm den Schlüssel, steckte ihn in das viel zu kleine Schlüsselloch, merkte erstaunt, dass er auf nicht mehr Widerstand stieß als ein heißes Messer bei einem Stück Butter.

Weitere Kostenlose Bücher