Spiegelkind (German Edition)
gebracht wurden, bis jetzt nicht wieder rausgekommen sind.«
Ich spürte, wie sich auf meinem Rücken die Gänsehaut ausbreitete und die Härchen auf meinen Unterarmen sich aufrichteten.
»Mama«, flüsterte ich.
»Nicht gleich verzweifeln, meine Liebe. Wenn Pheen so leicht unterzukriegen wären, hätten die Normalen sie längst ausgerottet, was den unmittelbaren Untergang der Gesellschaft der Normalität nach sich gezogen hätte, wenn diese Gesellen es doch bloß einmal begreifen würden.«
Justus Melchior seufzte, entrüstet über die lange Leitung der Normalen. Ich wurde rot, ich fühlte mich angesprochen.
»Werden denn … alle Pheen … weggebracht?«, fragte ich mühsam, der Gedanke war so grausig.
»Auf Antrag, meine Liebe. Auf Antrag. Jeder Normale kann sie der Polizei melden als auffällig, gefährlich, verhaltensgestört. Er muss es kurz und formlos begründen, was schon mal eine Farce ist, weil es in der Rechtspraxis der Normalität eigentlich keine formlosen Anträge mehr gibt. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sich jede Phee in den Augen eines Normalen auffällig benimmt, würde ich heute keiner Phee empfehlen, mit einem Normalen zusammenzuleben.«
»Ich wusste das alles nicht«, sagte ich. »Ich hatte immer gedacht, wenn zwei Leute zusammenleben, haben sie … also praktisch gleiche Rechte.«
»Mit dem Irrglauben sind Sie nicht allein, meine Liebe. Die ganze Wahrheit kennen höchstens Experten und natürlich die Betroffenen. Weder die eine noch die andere Seite ist daran interessiert, hier etwas öffentlich anzuprangern. Die Normalen aus verständlichen Gründen. Und die Pheen sind leider keine Kämpferinnen. Die haben Wichtigeres zu tun. Ich habe das Gefühl, wir Freaks sind die Einzigen, die sich wirklich darüber aufregen, was hier eigentlich läuft.«
»Aha«, sagte ich schwach und dachte an Ivan. Mir wurde immer deutlicher, dass Ivan anders war als alle, die ich kannte. Ich wusste nicht genug über Freaks, aber Ivan war kein Freak, er war kein Normaler, sondern einfach Ivan.
Justus Melchior nahm eine Brille mit runden gelb getönten Gläsern vom Tisch und begann, mit ihr herumzuwedeln.
»Diese Pheengesetze verändern sich manchmal im Stundentakt, mein liebes Kind. Der Normale testet das neue Gesetz gern vor, bevor er es allen zugänglich macht. Lieber kein Risiko eingehen, das ist die Einstellung. Dann kommen noch Pheenrechtler und Schutzorganisationen, Verteidiger wie ich und manchmal gelingt es, etwas wieder zu kippen. Auch manchem Normalen wird bei dem Gedanken unwohl, was eigentlich mit den Pheen passiert. Das muss ich schon eingestehen, dass so etwas durchaus mal vorkommt, obwohl es eher eine Ausnahme ist. Daher lautet die Devise: Lieber im Stillen handeln, wenn man sich eine neue Garstigkeit ausdenkt. Das haben die Normalen schon immer so gemacht.«
»Nein!«
»Das können Sie laut sagen. Das Dementio ist ein absoluter Tiefpunkt, wenn Sie mich fragen. Das Schlimmste daran: Es wird, wie immer, ohne Vorwarnung gehandelt. Und versuchen Sie mal, eine Phee da wieder rauszukratzen, wenn die erst mal drin ist.«
Ich schlug mir die Hände vors Gesicht.
Der Zwerg bekam einen Schreck, kletterte von seinem Stuhl, stellte sich an meine Seite und begann, mir hilflos die Schulter zu tätscheln.
»Nicht, meine Gute. Nicht weinen! Wer sagt denn, dass die wunderbare Laura auch im Dementio ist?«
Ich blinzelte ein paar Tränen weg. »Kann sie auch woanders sein?«
»Aber das hoffe ich doch sehr. Möglicherweise ist sie gewarnt worden. Vielleicht hat sie es noch rechtzeitig gespürt – legen Sie sich nie mit der Intuition einer Phee an! Und vielleicht hat die Sonderbrigade auch einfach nicht geschafft, sie zu kriegen. Das kann ich für Sie liebend gern herausfinden. Ich meine, ich bin nur ein Freak, ich bin nur ein Anwalt, aber ein paar Kontakte habe sogar ich.«
»Bitte, bitte, bitte«, nickte ich heftig und blinzelte ihn an. Die Tränen, die an meinen Wimpern hingen, nahmen mir die Sicht.
Nach dem Gespräch mit dem Anwalt meiner Mutter ging es mir etwas besser. Justus Melchior war, nach Ksü und Ivan, der Erste, den ich in meinem neuen Leben nicht als Feind betrachtete, sondern als jemanden, der mir helfen konnte und wollte. Er zuckte bei dem Wort Phee nicht zusammen. Im Gegenteil, er gab mir das Gefühl, als Tochter einer Phee etwas Besonderes zu sein. Ich fing ganz langsam an, mich daran zu gewöhnen. Wenn alles schon so schrecklich war – wenigstens war ich nicht mehr die brave,
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