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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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versperrten. Ich musste in die Mitte des Raums, bis ich ihn endlich zwischen den Stapeln sehen konnte.
    Er war ziemlich klein, ich dachte sogar, er würde hinterm Schreibtisch sitzen, aber er stand. Er hatte einen sehr langen hellgrünen Bart, der, lässig um den Hals geworfen, wie ein Schal auf seinen Schultern ruhte. Hinzu kam eine Hornbrille mit unglaublich dicken Gläsern und ein Hahnenkamm aus pinkfarbenen Haaren auf ansonsten kahl rasiertem bleichem Schädel.
    Dieser regenbogenbunte Zwerg war Justus Melchior. Der Anwalt meiner Mutter.
    Er hüstelte und sah fragend in meine Richtung.
    »Ja bitte?«, fragte er mit überraschend tiefer Stimme.
    »Herr Justus Melchior?« Meine Stimme war schon wieder dabei zu versagen.
    »Hier«, reagierte er unwillig.
    Ich atmete ein und aus.
    Er war ein Anwalt, rief ich mir ins Gedächtnis. Ich hatte gedacht, dass sich in diesem Beruf auch ein Freak an gewisse Erscheinungsregeln halten musste. Kein Wunder, dass er meiner Mutter nicht helfen konnte, so wie er aussah.
    Dann fiel mir ein, dass der Anwalt durchaus eine gute Lösung für meine Mutter ausgehandelt hatte, ungewöhnlich gut für eine Phee.
    »Entschuldigen Sie bitte die Störung«, brachte ich irgendwie hervor. »Ich bin die Tochter von Laura Rettemi …«
    Kaum hatte ich das gesagt, umschiffte der Zwerg seinen Schreibtisch und mehrere Büchertürme, strebte auf mich zu – sein Bart wehte ihm wie eine grüne Fahne hinterher – und schon hatte er mich zu sich runtergezogen und kitzelte mein Gesicht mit zwei Wangenküssen. Ich riss mich zusammen, um nicht zurückzuschrecken.
    »Wie geht’s der wunderbaren Laura?« Der Zwerg drückte meine rechte Hand zwischen seinen knotigen Fingern zusammen und spähte von unten durch die Brillengläser in mein Gesicht.
    »Eigentlich«, sagte ich, »wollte ich das von Ihnen wissen.«
    »Wie meinen Sie das, mein liebes Kind?«
    »Meine Mutter ist verschwunden.« Ich spürte den bereits vertrauten, anschwellenden Kloß in meiner Kehle. »Spurlos. Vor genau sechs Tagen. Ich weiß weder wieso noch wohin.«
    »Oh weh!« Der Zwerg tätschelte mitfühlend meine Schulter. »Davon wusste ich ja gar nichts. Diese Pheen, tststs. Setzen Sie sich, meine Liebe.«
    Er verschob einen Stapel Akten von einer Seite des Büros zur anderen und zum Vorschein kamen drei Stühle und ein kleiner runder Tisch, gedeckt mit gepunktetem Puppen-Teegeschirr und einer dampfenden Kanne.
    Ich setzte mich, die Knie ragten mir fast bis zu den Ohren. Die gleichen Stühle standen im Juniorland meines Viertels. Justus Melchior schenkte mir aus der Kanne ein. Der Duft kam mir bekannt vor.
    »Kräuter, von Pheen gesammelt«, sagte Melchior stolz, offenbar war ihm mein Stirnrunzeln nicht entgangen. »Ich trinke nichts anderes.«
    »Und wo haben Sie die her?«, fragte ich, obwohl mir das gerade ziemlich egal war. Aber ich hatte das Gefühl, er könnte sich freuen, wenn ich mich dafür interessierte.
    »Ich hab sie gekauft. An illegalen Adressen habe ich keinen Mangel. Manchmal schenken mir auch meine Mandantinnen etwas. Es gibt ja immer wieder Fälschungen, weil viele Pheen gerade in diesen Zeiten Besseres zu tun haben, als Kräuter zu sammeln. Aber man riecht den Unterschied sofort, was von einer echten Phee ist und was ein Freak zusammengepanscht hat, um es als illegalen Pheentee auszugeben.«
    »Besseres zu tun?«, fragte ich, dieser Teil interessierte mich viel mehr als die Schwierigkeit, an einen guten Tee ranzukommen.
    »Langsam, meine Liebe.« Justus Melchior trank mehrere Schlucke aus seiner Tasse, holte ein Taschentuch hervor und wischte sich damit das Gesicht trocken. »Das Problem ist doch dieses neue Gesetz.«
    »Welches neue Gesetz?«
    »Ein schreckliches Gesetz.« Der Zwerg stellte die Tasse ab und schlug vorsichtig mit der Faust auf den Tisch. Die Tassen hüpften auf den Untertassen hoch und gaben einen zarten Ton von sich.
    »Früher war es so, dass Pheen sich nicht wirklich strafbar machten, wenn sie mit Normalen zusammenlebten. Das ist im Grunde immer noch so. Ein Normaler darf sich eine Phee zur Frau nehmen, wenn er unbedingt will. Solange es eben gut geht. Gut gehen – das ist gemeint aus der Sicht des Normalen. Das Neue ist das Dementio.«
    »Was heißt das?« Ein ungutes Gefühl überkam mich.
    »Das Dementio. Eine Einrichtung, in der die Pheen, wie es offiziell heißt, ungefährlich gemacht werden. Keiner weiß, wie es da drin zugeht, erstens weil sie neu ist, zweitens weil die Pechvögel, die dahin

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