Spiegelkind (German Edition)
stand, und dem Geländer, über dem ein Handtuch hing. Mein Herz klopfte laut.
Ksü starrte das Haus mit offenem Mund an. Auch sie erkannte es wieder. Ich griff nach ihrer Hand und sie erwiderte meinen Händedruck.
Ich konnte sehen, dass jemand im Haus war. Ein Schatten bewegte sich am Fenster. Ich zitterte, obwohl ich keine Angst mehr hatte. Es war etwas ganz anderes, eine Mischung aus Glück, Aufregung, Sehnsucht und dem Wunsch, den Moment hinauszuzögern.
Kein Haus war mir so vertraut wie dieses, es war das Haus, das ich mein Leben lang, Tag für Tag, auf dem Quadrum in meinem Zimmer gesehen hatte.
Und dann öffnete sich die Tür und sie kam heraus, blinzelte in die Sonne, strich sich die rotbraunen Haare aus dem Gesicht. Sie trug ein langes geblümtes Kleid, war barfuß, jung, genauso, wie ich sie das letzte Mal gesehen hatte.
Meine Mutter.
Ich stieß Ksü aus dem Weg und rannte los, ich sprang wie ein kleines Kind in die Arme meiner Mutter, fast warf ich sie um. Ich konnte es nicht glauben, dass sie es wirklich war. Ich hatte befürchtet, dass sie sich in dem Moment in Luft auflösen würde, in dem ich sie berühre.
»Mama! Mama!«, wiederholte ich. Mehr fiel mir im Moment nicht ein. Meine Mutter streichelte meine Haare. Dann ließ sie mich los und wandte sich Ksü zu.
»Wir kennen uns doch?«
Ksü nickte und näherte sich vorsichtig. In ihrem Gesicht stand blanke Ehrfurcht. Na sicher, kapierte ich: Meine Mutter war die berühmte Phee Laura. Für alle außer mir. Mir war es völlig egal, wer sie war. Es reichte einfach, dass sie da war.
»Das ist Ksü«, sagte ich und meine Mutter umarmte auch meine Freundin kurz, legte jeder von uns eine Hand auf die Schulter und führte uns ins Haus.
Wir sitzen an dem Holztisch. Meine Mutter brüht einen Tee auf. Ksü und ich schauen uns an. Ich habe mir den Moment anders vorgestellt. Heftiger, feierlicher. Nicht so selbstverständlich. Ich bin ganz ruhig. Kein bisschen aufgeregt, keine Spur euphorisch.
Hauptsache, sie ist da. Hauptsache, sie lebt.
Der Duft des Tees umweht unsere Nasen.
»Oooh«, sagt Ksü und schließt die Augen.
Meine Mutter stellt drei Tassen auf den Tisch und schenkt ein. Ksü umfasst ihre Tasse mit beiden Händen.
»Haben Sie die Kräuter gesammelt?«, fragt sie meine Mutter.
Laura lächelt. »Für dich nur eine halbe Tasse«, sagt sie, ohne Ksüs Frage zu beantworten. Ich bin ihr dankbar, dass sie nicht weiter auf den Tee eingeht. Eine Diskussion um die richtigen Kräuter und von wem sie nun gesammelt wurden, das hätte ich jetzt nicht ausgehalten. »Mehr würde ich dir nicht empfehlen, aber diese halbe Tasse schon. Du bist so müde. Es war alles zu viel.«
Erstaunt sehe ich, dass eine Träne Ksüs Wange herunterrollt. Ich schaue verlegen zur Seite. Laura legt eine Hand auf Ksüs Kopf.
Ich bin fast eifersüchtig, dass meine Mutter sich mehr um Ksü als um mich kümmert. Schließlich bin ich hier die Tochter. Ich habe gelitten. Ich habe sie gesucht. Aber Laura schaut nur Ksü an, wartet, bis meine Freundin ihre Tasse geleert hat, und nickt ihr aufmunternd zu.
»Leg dich da drüben hin, du schläfst ja längst.«
In der Tat kann Ksü kaum noch stehen. Sie wankt zu der Bank, die in der Ecke steht, breit und gepolstert, und lässt sich fallen. Laura deckt sie mit einer gemusterten alten Decke zu.
Es dauert keine zwei Sekunden und Ksü ist eingeschlafen.
Jetzt wendet sich meine Mutter mir zu. Endlich. Sieht mich an und lächelt. Sagt aber nichts, wahrscheinlich wartet sie darauf, dass ich den Anfang mache.
Also sage ich: »Darf ich auch nur eine Tasse trinken und schlafe dann sofort ein?« Mein Tee ist schon ziemlich kalt und so aufregend finde ich seinen Geschmack nicht. Das ganze Thema interessiert mich nicht. Und weil es so unwichtig ist, spreche ich es an, bevor wir zu anderen Dingen kommen.
Meine Mutter scheint auf etwas zu warten. Als ich schweige, winkt sie ab. »Nein, für dich gilt das nicht. Du darfst mehr.«
»Warum?«
Meine Mutter sagt nichts und eigentlich weiß ich es auch so. Ich bin anders als Ksü. Ich muss mich an die Dinge, die von Laura kommen, nicht erst langsam gewöhnen. Aber trotzdem – ich bin enttäuscht, wie sie mich behandelt.
Doch anstatt sie zu löchern, sitze ich still da und sehe sie an. Und sie mich und ihre leichte Hand liegt auf meinem Unterarm und ich spüre irgendwo unter meiner Haut ein stilles, flüchtiges Glück. Ich habe das Gefühl, dass die Dinge, die ich in den letzten Tagen erlebt habe,
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