Spiegelkind (German Edition)
gerade anfangen, sich in meinem Kopf zu etwas zusammenzufügen, was gut ist. Ich kann sie noch nicht benennen. Aber es ist ein Wissen, das sich nach und nach ordnet. Zumindest ist mir klar, dass ich manches empörte »Warum?« nicht fragen werde. Jedenfalls jetzt nicht.
»So ist es also«, sage ich.
»Ja«, sagt meine Mutter. »So ist das also.«
Wir schweigen noch ein Weilchen. Was sagt man zur eigenen Mutter, die zur Flucht gezwungen war, weil der eigene Vater sie auf eine schwarze Liste hat setzen lassen? Die ihre Kinder … wie lange nicht gesehen hat? Es fühlt sich an wie Monate, aber als ich zu rechnen beginne, wird mir klar, wie wenig Zeit seitdem vergangen ist. Und plötzlich stellt sich mein ganzes Unglück der letzten Tage als harmlos heraus. Sie ist die ganze Zeit da gewesen, in der Nähe. Es ist nicht ihre Schuld, dass ich es nicht gemerkt habe.
Ich schaue sie an. Sie hat sich doch verändert. Sie ist eine Spur älter und härter geworden. Sie spricht anders. Ich frage mich sogar, ob sie echt ist oder ob ich vielleicht gerade von ihr träume. Ich strecke schnell den Arm aus und kneife sie mit aller Kraft ins Handgelenk.
Sie zuckt zurück, dann zeigt sie mir lächelnd die roten Spuren meiner Nägel auf ihrer dunklen Haut. Sie ist echt. Ich habe ihr wehgetan. Und sie versteht meine Bedenken.
Das hält mich nicht davon ab, sie plötzlich anzuschreien, gedämpft, um Ksü nicht zu wecken, heiser, mit letzter Kraft.
»Warum hast du mir nie etwas erklärt? Warum nicht einfach die Wahrheit gesagt?«
Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie Ksü sich auf der Bank in der Ecke aufsetzt, mit leeren Augen in die Gegend schaut und wieder zurück auf den Rücken fällt.
»Ich wollte euch schützen, Juli.«
»Vielen Dank. Ist dir prächtig gelungen.«
»Was hätte ich denn anderes tun sollen?«
Sie ist meine Mutter, ich habe sie endlich gefunden, aber sie hat keine Antwort auf meine wichtigste Frage. Sie lässt meinen Vorwurf unkommentiert stehen. Was hätte sie besser tun sollen? Ja, ist es etwa meine Aufgabe, mir den Kopf darüber zu zerbrechen?
»Du hättest uns mitnehmen können«, sage ich. »Mit uns weglaufen. Dann wäre das alles nicht passiert.«
»Wohin weglaufen?«
»Was weiß ich. Hierher.
»Für immer hierher? Nie wieder raus?«
»Warum nicht?«
»Weil du nie weißt, was dich hier erwartet.« Meine Mutter lehnt sich zurück.
»Aber es ist doch dein Wald?«
»Es ist viel eher dein Wald«, sagt meine Mutter. »Was du hier siehst, kommt von dir.«
»Aber du hast doch die Quadren gemacht!«
»Ich beherrsche vielleicht die Technik«, sagt meine Mutter. »Aber wer einen Spiegel baut, ist nicht verantwortlich für das Spiegelbild.«
Ich habe meine Zweifel, ob das stimmt.
»Es fühlt sich komisch an, hier zu sein«, sage ich. »Die Luft ist anders und der Himmel hat einen rosa Stich.«
»Die Zeit ist hier anders. Sie ist verzerrt. Wenn man neu ankommt, bereitet das einem Schwierigkeiten. Je jünger man ist, desto leichter geht es. Deine Geschwister, zum Beispiel, fühlten sich von erster Sekunde an wohl hier.«
»Was?« Ich spüre einen erneuten Stich, eine Mischung aus Eifersucht und Überraschung. »Sie waren auch schon hier?«
»Im Traum.«
»Was soll das heißen??«
»Wenn sie einschlafen, kommen sie hierher.«
»Dann ist sie es also doch«, sage ich langsam. »Das Mädchen auf dem Quadrum in Ksüs Küche. Sie sieht aus wie Kassie, aber ich dachte immer, das kann sie nicht sein, das Quadrum ist viel älter.«
»Ja«, sagt Mama. »Die Fensterbank ist Kassies allerliebster Platz.«
»Was sehen sie hier eigentlich?«
»Das musst du sie fragen.«
»Aber warum haben sie es mir nicht gesagt?«
»Sie erinnern sich nicht so genau. Nach dem Aufwachen fühlt sich das an, als hätten sie geträumt. Und außerdem sind sie nicht davon ausgegangen, dass du ihnen glauben würdest.«
»Na, toll. Als du Zero zu Kassie geschickt hast, hat sie mir davon auch nichts erzählen wollen«, sage ich bitter.
»Und du, hast du ihr von deiner Katze erzählt?«
Ich schaue meine Mutter an. Ist das ein Vorwurf? Nein, es ist einfach Tatsache. Wir können nicht einfach so vertrauen, weder meine Mutter noch ich. Und Kassie ist genauso. Sie hat es nicht anders gelernt.
»Die Zwillinge haben nie unglücklich gewirkt«, erinnere ich mich. »Als wüssten sie, dass du nicht weit sein kannst.«
Meine Mutter nickt und für einen Augenblick kann ich in ihrem Gesicht sehen, wie viel Kummer und Kraft sie diese Zeit
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