Spiegelkind (German Edition)
Gefühl, so etwas schon einmal erlebt zu haben. Umzingelt zu sein und es gibt nur einen einzigen Ausweg, von dem niemand weiß. Das Quadrum. So hat sich meine Mutter gerettet, als die Sonderbrigade gekommen ist, um sie ins Dementio zu bringen. Ich hätte viel früher draufkommen sollen.«
Ksü fasste sich an den Kopf und stöhnte.
»Ich meine, wir sind einfach nur in einem Quadrum, sonst nichts«, sagte ich. »Und die Quadren sind offenbar miteinander verbunden und irgendwo hier …« Ich schluckte, ich traute mich nicht, es auszusprechen. Ich wollte nicht schon wieder hoffen. Es war schon ein Riesenglück, dass wir die Polizei abgeschüttelt hatten.
Ich stand auf und hielt Ksü die Hand hin.
»Stell dir vor, wie blöd die jetzt alle gucken«, sagte ich.
»Vor allem Ivan«, flüsterte Ksü.
Ich klappte meinen Mund zu. Ivan hatte ich ganz vergessen.
»Wir gehen zurück und holen ihn«, sagte ich und sah mich hilflos um. Ich hatte keine Ahnung, wie man das Quadrum wieder verließ.
Ksü schüttelte den Kopf.
»Auf keinen Fall. Sonst verstehen sie, was wir gemacht haben, und versuchen, die Quadren zu vernichten.«
»Das versuchen sie ja sowieso schon«, sagte ich. »Ständig.«
Meine gute Laune war verflogen. Ich schämte mich, dass ich nicht an Ivan gedacht hatte. Ich schaute Ksü an, ich wusste, wie es ihr jetzt ging.
»Er schafft es schon«, flüsterte Ksü mit Tränen in den Augen. »Er ist sehr, sehr klug.«
Ich nickte und legte meinen Arm um sie.
»Er hat sie alle unterschätzt«, sagte Ksü, ich nickte wieder. »Er glaubt immer an das Gute, an die Gerechtigkeit, an die Kraft der Gesetze. Aber er wird trotzdem ein brillanter Anwalt, er weiß, wie er sich wehren kann.«
Ich nickte auch diesmal, obwohl ich mir nicht sicher war. Ivan hatte beim Angriff der Polizei mit Paragrafen um sich geworfen, er mochte theoretisch recht haben, aber es hatte die Polizei überhaupt nicht interessiert. Bei der Erinnerung an das Geräusch, mit dem der Knüppel auf Ivans Kopf niedergesaust war, schloss ich die Augen. Ich hoffte nur, dass Ksü gerade nicht das Gleiche dachte.
»Ksü«, sagte ich. »Ich weiß, wie viele Sorgen du dir machst. Mir geht es genauso. Aber jetzt sind wir hier und ich weiß, dass meine Mutter auch hier sein muss. Und wenn wir sie finden, wird alles gut.«
Ksü wankte immer noch, wahrscheinlich hatte sie sich an die Welt auf dieser Seite des Quadrums noch nicht ganz gewöhnt oder sie war noch sehr von unserer Flucht mitgenommen. Wir hielten uns an den Händen, als wir auf dem Pfad in Richtung der aufgehenden Sonne liefen. Ksüs Schritte wurden sicherer, aber trotzdem war ich diejenige, die sie führte. Das war ganz ungewohnt, denn in der Welt auf der anderen Seite des Quadrums war es meist genau umgekehrt. Und nun war auf einmal ich diejenige, die den Ton angab.
Der Weg wurde breiter, hier und da raschelte es und einmal flatterte etwas kleines Gelbes vorbei. Ich sah hinterher, das Zickzack der Flugbahn kam mir vertraut vor.
»Zero?«, rief ich. Aber der gelbe Fleck verschwand im Gebüsch.
Ksü blieb wieder stehen, ihre Brust hob und senkte sich.
»Alles okay?«, fragte ich.
»Weiß nicht.« Sie drückte die Hand gegen ihren Hals. »Hier ist die Luft so anders.«
»Wie denn?« Ich hatte keinerlei Probleme.
»Weiß nicht. Anders.«
Sie setzte sich auf einen großen runden Stein, der am Wegrand lag. Er war genau dann aufgetaucht, als Ksü nicht mehr laufen konnte. Ich wartete, während sie verschnaufte, und hoffte sehr, dass es nicht schlimmer werden würde.
Ich kannte die Geheimnisse dieses Waldes nicht. Es war kein Computerspiel, sondern dunkles, feucht-modrig riechendes, dorniges und sehr fremdes Leben. Ein Wald war nicht harmlos, so viel wusste ich. Vielleicht waren wir hier nicht willkommen, und dann sah es für uns nicht gut aus.
Es dauerte nicht lange und Ksü erhob sich. Sie atmete jetzt ruhiger, die Blässe war aus ihrem Gesicht gewichen. Wir liefen weiter. Die Erleichterung ließ mich fast schweben.
Der Pfad unter unseren Füßen wurde ein wenig breiter und der Boden war jetzt zu sehen. Die Farne streichelten unsere Waden, hier und da blieb eine Klette oder der Fangarm einer dornigen Pflanze an meiner Hose hängen, als würde er mich bremsen wollen. Dann hielt ich an und löste die Dornen, schob den Zweig vorsichtig zurück.
Und dann standen wir da. Vor dem Haus. Dem schlichten Holzhaus aus Baumstämmen, mit einem ganz leicht schiefen Dach. Mit einer Veranda, auf der ein Napf
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