Spiegelkind (German Edition)
Polizeimotorräder handelte, aber dutzendfach verstärkt.
»Hat Papa die Polizei geschickt?«, flüsterte ich. Ich fiel aus dem Fenster und landete auf dem Rasen, aber da rannte schon ein Polizist auf mich zu, ich sah das auf mich gerichtete Auge seiner Waffe, gab Ksü die Hand und brüllte: »Schnell, zieh mich ins Haus zurück!«
Ksü zerrte an mir, bis ich über die Fensterbank zurück ins Zimmer flog. Wir knallten das Fenster zu und in diesem Moment hörten wir eine Stimme, die über einen Lautsprecher dröhnte, so laut, dass es in meinem Rückenmark vibrierte: »Die Polizei klagt die Geschwister Okasaki der Entführung der minderjährigen Normalen Juliane Rettemi an und fordert die sofortige Herausgabe, andernfalls wird das Haus gestürmt.«
»Ich gehe raus!«, schrie ich. »Ich gehe zu ihnen, sonst hauen die hier alles kurz und klein!«
»Kommt nicht infrage!« Ksü zog mich weg vom Fenster, durch die verwinkelten Flure. »Ich lasse es nicht zu. Wo bleibt Ivan?«
Mein stärkstes Bedürfnis war, unter einen Tisch zu klettern und mir Augen und Ohren zuzuhalten. Aber Ksü zog mich unerbittlich mit. Etwas quiekte unter meinen Füßen. Wahrscheinlich war ich auf eine Ratte getreten. »Tut mir leid!«, brüllte ich im Laufen. Wir kamen in der Dachkammer an und drückten die Nasen gegen das winzige staubige Fenster.
Ksü sah ihn als Erste. »Endlich. Er ist da!«
Ich hatte so etwas noch nie gesehen: Ein geflügeltes Motorrad flog wie ein kleiner zielstrebiger Drache über die hohe Hecke und landete auf der Wiese vor dem Haus. Ivan stieg ab, riss sich den Helm vom Kopf. Der Wind verwehte seine Haare, sein Gesicht war verzerrt vor Wut. Er gestikulierte mit den Polizisten, er schrie ihnen etwas zu und seine Worte schienen sie immerhin ein klein wenig zu beeindrucken. Einige machten sogar einen Schritt zurück.
»Was sagt er ihnen?«, flüsterte ich.
»Ich weiß nicht«, flüsterte Ksü. »Aber ihm fällt immer was ein.«
»Ich gehe raus und sage, dass ich an allem schuld bin. Allein.«
»Auf keinen Fall.« Ksü hielt mich am Ärmel fest.
Ich schaute auf die schwarzen Helme der Polizisten, auf Ivans zerzaustes mondhelles Haar, auf die zurücktretenden Uniformstiefel.
»Was sagt er ihnen bloß?«, flüsterte ich. »Wenn wir es doch hören könnten …«
Und dann sahen wir, wie Ivan den Polizisten bedeutete zu warten, sich umdrehte und ins Haus ging. Wir hörten seine sicheren Schritte auf den Treppen, drückten uns aneinander und drei Atemzüge später stand er vor uns.
Seine Stimme klang gelassen, obwohl er sehr blass war. »Wusste ich doch, dass ihr euch hier versteckt. He, was ist los?«
Ksü und ich, wir heulten beide und Ivan lächelte kurz und tätschelte die Schlange auf Ksüs Schädel.
»Ich habe gesagt, dass du dich freiwillig hier befindest, Juli, und dass sie gegen eigene Gesetze verstoßen, indem sie hier auf unserem privaten Grundstück auf solche Art und Weise auftauchen. Zwar ist dein Vater dein Erziehungsberechtigter und du bist noch minderjährig. Da du aber bereits über vierzehn bist, muss man in diesem Fall zuerst dich anhören, bevor man zu anderen Maßnahmen greift.«
»Und haben sie das eingesehen?«, fragte ich, soweit es meine klappernden Zähne zuließen.
»Sie wollen, dass du rauskommst und es ihnen selber sagst. Sie wollen sehen, dass du gesund und munter bist und nicht unter Drogen stehst.«
»Aber wenn das eine Falle ist?«, fragte Ksü.
»Wir haben keine Wahl«, sagte Ivan. »Sie sind stärker. Sie stürmen das Haus bei Zuwiderhandlung und es kann ausgehen wie … damals.«
»Ich gehe«, sagte ich. Bevor Ksü mich aufhalten konnte, rannte ich die Treppe runter. Ksü stürzte hinterher, gefolgt von Ivan.
Wir traten zusammen vor die aufgereihten Polizisten. Die Motoren ihrer Gefährte liefen immer noch und das Dröhnen hing in der Luft. Ich fröstelte unter den teils gleichgültigen, teils aufmerksamen Blicken von so vielen Augenpaaren. Bis ich meinen Vater entdeckte. Ich hatte nicht mit ihm gerechnet, vom Dachfenster aus war er nicht zu sehen gewesen, weil er so ungünstig stand.
Er wirkte im Gegensatz zu den Polizisten alles andere als gleichgültig. Die Schöße seines Sakkos flatterten im Wind, sein sonst so gerader Mittelscheitel war durcheinandergeraten, das Gesicht eine Maske; ich erkannte ihn kaum wieder. Ich zog meine Zehen ein. Mir wurde immer kalt, wenn ich Angst hatte. Mein Vater schaute uns drei an, aber er wirkte wie blind, sein Blick streifte mich und
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