Spiegelriss
Haare haben etwas sehr Fröhliches. Obwohl es ein schönes Bild ist, zieht sich in mir alles zusammen. Ich habe keine Ahnung, wie Ingrid zu einem solchen Porträt kommt und wer darauf abgebildet ist.
»Ingrid, wer ist das Mädchen auf dem Foto?«, rufe ich.
»Siehst du das nicht?« Ingrid kommt heraus und stellt sich neben mich, betrachtet das Foto. »Das bin ich. Da war ich nicht viel älter als du.«
Irgendwie schaffe ich es, nicht in der Badewanne einzuschlafen, in die Ingrid eine halbe Flasche Hydragon-Schaumbad Duftrichtung Curry-Kokos reingekippt hat. Es kommt mir alles unwirklich vor, das heiße Wasser, die chromblitzenden Wasserhähne, die flauschigen weißen Handtücher, selbst die beschlagenen Spiegel. Ich fühle mich klein und will es auch wieder sein. Wie schön wäre es, wenn mich jemand in ein Handtuch wickeln und ins Bett tragen würde, um mir dort eine Geschichte zu erzählen, deren Ende ich nicht mehr mitkriege, weil ich bereits mittendrin eingeschlafen bin. Meine behütete Kindheit ist so plötzlich zu Ende gegangen, dass ich mir jetzt selber leidtue.
Du bist schon sechzehn, rufe ich mir in Erinnerung. Du kannst allerhand, zum Beispiel einen Wald anzünden, der dir so viel bedeutet hat. Also hör auf zu flennen.
Ich richte mich in der Badewanne auf und schüttele den Schaum ab. Der Spiegel ist zu beschlagen, um irgendwas sehen zu können. Ich schlinge die Arme um mich und kratze an den Narben an meinem Rücken. Dann drehe ich das kalte Wasser auf. Ich schreie auf, als die eisigen, harten Wasserstrahlen auf mich herunterprasseln.
Dafür bin ich endlich wieder wach.
Während Kojote nach mir das Bad belegt, sitze ich mit Ingrid auf dem Sofa. Ich trage eine Stretchhose von ihr, mit der sie wahrscheinlich früher immer zum Sport gegangen ist und die mir viel zu kurz ist, dazu einen Pullover von Reto. Beides riecht so vergessen und vertraut nach Waschpulver, es rührt mich zu Tränen. Ich habe nicht auf die Kleider aufgepasst, die ich vor dem Baden ausgezogen habe, Ingrid hat sie wahrscheinlich blitzschnell entsorgt. Ich hoffe, dass sie wenigstens die Jacke verschont hat, die Ivan mir gegeben hat.
Auf Ingrids Knien liegt ein Fotoalbum. Ich starre folgsam auf die aufgeschlagenen Seiten. Möchte sie jetzt ein wenig in Erinnerungen an das frühere Glück schwelgen? Wieder sticht es tief in mir drin, als ich sehe, worum es sich handelt. Das Album beginnt mit der Geburt der Zwillinge, zwei pausbäckige Babys in einem Doppelkinderwagen, auf einer Krabbeldecke, auf den Armen von Ingrid und Reto. Meine Mutter ist kaum vorhanden. Das ist nur logisch, dass Ingrid wenig Lust hatte, Bilder von ihr einzukleben. Das größere Mädchen mit den Zöpfen bin ich. Ganz schön mürrisch gucke ich vom Bildrand. War ich eifersüchtig auf meine kleinen Geschwister? Ich kann mich gar nicht erinnern.
»Warum zeigst du mir das?«
»Siehst du das nicht?«
»Was sehe ich nicht?«
Sie zeigt es mir, aber es dauert trotzdem, bis ich es kapiere und mir das Blut in den Adern gefriert. Meine Mutter ist zwar so gut wie nicht vorhanden auf den Bildern, nur manchmal erkenne ich irgendwo ihre schlanken Finger oder eine Haarsträhne am Rand. Das Seltsame ist aber, mein Vater ist gar nicht da. Obwohl er hier hätte sein müssen, jetzt sehe ich es genau. Sein Platz auf den Fotos ist leer – an den Geburtstagstafeln, am Kinderwagen der Zwillinge, bei ihrer Einschulung, im Urlaub.
Ich fröstele und schlinge die Arme um mich.
»Wann ist es euch aufgefallen?«
»Als Rudolf gestorben ist«, sagt Ingrid mit gleichmäßiger Stimme. »Er ist von allen Bildern verschwunden. Ich habe kein einziges Foto aus den letzten vierzehn Jahren gefunden, auf dem er noch drauf wäre.«
Ich schweige. In meinem Kopf rattert es heftig.
»Was ist denn da passiert, vor vierzehn Jahren?«, frage ich, obwohl ich die Antwort längst weiß.
»Vor vierzehn Jahren«, sagt Reto, »hat er deine Mutter kennengelernt.«
Der frisch gebadete Kojote erscheint in Retos Trainingsanzug. An den Seiten der Hosenbeine sind Bügelfalten. Seine roten Haare stehen zu allen Seiten ab, seine Haut sieht goldig rosa aus und scheint zu dampfen. An den Füßen trägt er Retos weiße Tennissocken. Unter anderen Umständen hätte ich einen Lachanfall gekriegt.
Er kommt rein, sieht unsere Gesichter und geht wieder raus. Ingrid blickt ihm kurz und besorgt hinterher. Vielleicht denkt sie, dass er, unbeaufsichtigt in ihrem wohleingerichteten Heim, irgendwas klaut – eine Plastikvase
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