Spiegelschatten (German Edition)
Fall. Fühl dich wie zu Hause, und das meine ich, wie ich es sage. Schau dich in Ruhe um. Das Gästezimmer erkennst du daran, dass es gleichzeitig ein bisschen so was wie eine Bibliothek ist.«
Mit diesen Worten zog Ingo sich in die Küche zurück, aus der kurz darauf das Klappern von Geschirr drang, untermalt von leisem Jazz.
Ingo hatte offenbar nicht eigens aufgeräumt, es sei denn, er lebte normalerweise im absoluten Chaos. Der Couchtisch war wie eine gläserne Insel inmitten von Bücherstapeln und CD s. Das ausladende schwarze Ledersofa war mit Zeitschriften und weiteren Büchern bedeckt. Auf dem Tisch lagen ein Handy, eine kleine Kamera, ein Diktiergerät und ein Tablet- PC , das Handwerkszeug eines Journalisten.
Auf dem Esstisch am anderen Ende des Raums stand ein aufgeklappter Laptop zwischen Stößen großformatiger Fotografien, die allesamt Türen zeigten. Rathaus-, Kirchen- und Haustüren. Türen aus Holz, aus Eisen und Glas. Bemalte, verzierte und schlichte Türen.
Türen.
Nichts passte besser in Romys augenblickliche Gefühlslage. Ständig öffnete sich eine neue Tür, wurde sie in eine weitere undurchschaubare Situation katapultiert. Und gerade eben hatte sich wieder eine Tür aufgetan, die zu einem Ingo führte, von dessen Existenz sie keine Ahnung gehabt hatte.
Sie trat auf den kleinen Balkon hinaus. Ein scharfer Wind schlug ihr entgegen, durchsetzt von kalter Nässe, und sie verschränkte fröstelnd die Arme vor der Brust. Die Dämmerung war unmerklich in Dunkelheit übergegangen und die Stadt hatte die Lichter angeknipst.
Romy sah erleuchtete Schiffe auf dem Rhein. Sie hörte die Abendstimmen der Straßen. Fühlte die beinah schmerzhafte Liebe zu dieser Stadt.
Als sie wieder in den Wohnraum zurückgekehrt war, wurde sie vom Leuchten des Kaminfeuers empfangen, das Schatten an die Wände warf und Edeltraud behäbig tanzen ließ.
» I scream, you scream«, sang Ingo in der Küche, » we all scream for ice cream«, und Romy lächelte in sich hinein, als sie sich aufmachte, den Rest der Wohnung zu erkunden.
In Ingos Schlafzimmer, das sie von der Türschwelle aus betrachtete, standen ein großes Futonbett und ein Hocker mit einem Wecker darauf, sonst nichts. Die Wände waren weiß und schmucklos. Eine Tür führte in ein kleines Ankleidezimmer, in dem ein offenes Schranksystem aufgebaut war, das Kleidung und Wäsche enthielt. Am Fenster dieses Raums stand ein Crosstrainer.
Es war seltsam für Romy, einen so intimen Blick in Ingos Leben zu tun. Rasch zog sie sich zurück und machte sich auf die Suche nach dem Gästezimmer.
Auf dem Weg dahin spähte sie in das Badezimmer, das ganz in Weiß und Schwarz gehalten war, mit einem langen, eckigen Waschtisch, einer Hightech-Dusche und einer ultramodernen Badewanne, die wie ein weißer Sarkophag frei im Raum stand.
Das Gästezimmer schien förmlich auf Romy zu warten. Bücher vom Boden bis zur Decke. Über das Bett war eine leuchtend rote Decke gebreitet. Auf dem Nachttisch stand eine Vase mit Osterglocken. Der Einbauschrank bot genügend Platz für ihre Klamotten. Ein kleiner Schreibtisch mit Stuhl lud sie zum Arbeiten ein und ein zierlicher weißer Ledersessel zum Lesen.
Das Beste von allem jedoch war der Blick aus dem Fenster, der über die Südstadt ging, ein Lichterspektakel, das überragt wurde von den angestrahlten Türmen des Doms.
Wahnsinn.
» Alles okay?«
» Das fragst du nicht im Ernst.« Sie drehte sich zu Ingo um, der unbemerkt hinter sie getreten war. » Du lebst ja wie im Märchen.«
» Ein verwunschener Prinz, der sich so lange die Finger für Zeitungen blutig schreiben muss, bis die Liebe der Prinzessin ihn zurückverwandelt.«
Mit einer feierlichen Geste reichte er ihr den Arm, und Romy ließ sich zum Esstisch führen, den Ingo mit allem gedeckt hatte, was das Herz begehrte: selbst gebackenem Brot, dessen Duft ihr verlockend in die Nase stieg, einer Platte mit den unterschiedlichsten Käsesorten, einer zweiten mit mehrerlei Fisch und einer dritten mit mediterranen Vorspeisen. Neben einer Schale voller Früchte stand eine bauchige Glaskanne, gefüllt mit goldgelbem Tee.
Und das nannte Ingo eine Kleinigkeit.
» Wenn du noch etwas anderes willst…«
Romy war zum Heulen zumute. Sie konnte sich nicht erinnern, je so verwöhnt worden zu sein. Außer von Helen. Ganz allmählich fing sie an, sich wohlzufühlen, und das war mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte.
*
Die Fahrt war ein einziger Horrortrip gewesen. Maxims Kopf dröhnte
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