Spiegelschatten (German Edition)
hier ist nur ein Termin von vielen.«
Kerim fragte nicht weiter nach und kehrte an seine Arbeit zurück.
Während Romy durch den Hofgarten zum Hauptgebäude ging, um sich in der Cafeteria mit Ted Maurer zu treffen, sprach sie in ihr Diktiergerät, das sie auch während des Gesprächs mit Kerim hatte laufen lassen:
» Dass er so gar keine Ecken und Kanten zu haben scheint, muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass er etwas zu verbergen hat. Obwohl die Nachbarn spektakulärer Serienmörder oft aussagen, der Täter sei ein unauffälliger, netter, zuverlässiger Mensch gewesen.«
Freundlich. Hilfsbereit. Sympathisch.
Das waren die Begriffe, die immer wieder vorkamen, wenn Menschen über einen Freund, Nachbarn oder Arbeitskollegen aussagten, der praktisch über Nacht als Serienmörder, Vergewaltiger oder Amokläufer entlarvt worden war.
Ein treuer Ehemann, hingebungsvoller Vater, guter Sohn und Bruder.
Die schlimmsten Gräueltaten konnten unter dem Deckmantel der Wohlanständigkeit begangen werden.
Unauffällig.
Romy knabberte an diesem Wort.
Sie fühlte, dass sie damit den Schlüssel zu den Morden in der Hand hielt.
Unauffällig …
Es war wieder ein bisschen wärmer geworden und Romy zog die Mütze ab und stopfte sie in ihre Tasche. Sie rubbelte sich mit den Fingern durchs Haar, schaute auf die Uhr und beschleunigte ihre Schritte.
Den Termin mit Ted Maurer hatte sie über E-Mails vereinbart. Wie Björn studierte er Informatik und er schien Björn tatsächlich nur oberflächlich zu kennen.
» Wir sehen uns manchmal in Vorlesungen, das war es aber auch schon«, sagte er, als er mit Romy an einem Fensterplatz in der Cafeteria saß. » Ich weiß deshalb absolut nicht, was du von mir zu erfahren hoffst.«
Auch er hatte nichts dagegen einzuwenden, dass Romy ihr Gespräch aufnahm, was, wie Romy fand, dafür sprach, dass er ein reines Gewissen hatte.
Ein reines Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen, hatte Schwester Irmhilda immer gesagt, bevor sie eine ihrer sadistischen Strafaktionen gestartet hatte.
Reines Gewissen, dachte Romy. Schuld. Sühne.
Immer noch machte sie sich das Leben damit schwer, dass sie in solchen Kategorien dachte. Es würde lange dauern, sich vollständig von dem hartnäckigen Einfluss der Klosterschule zu befreien. Falls das überhaupt jemals möglich war.
Auch für Björn waren die Jahre im Internat eine schier endlose Leidenszeit gewesen. Sie beide hatten nur durchgehalten, weil die Eltern sie glücklicherweise in eine gemischte Schule gesteckt hatten, wo sie sich aneinander hatten festhalten können.
» Ich sammle einfach Eindrücke«, erklärte Romy. » Um meine Artikel zu schreiben, muss ich mehr wissen, als ich bei den Pressekonferenzen der Polizei erfahre.«
Ted nickte. Er knibbelte unentwegt an der Haut seines Daumennagels. Die Stelle sah schon ganz entzündet aus. Seine Nägel waren abgekaut, die Hände ungepflegt.
» Die Geschichte hält die ganze Uni in Atem«, sagte er. » In so einer Zeit möchtest du echt nicht schwul sein.«
Seine Bemerkung stieß Romy ab. Es gefiel ihr nicht, wie er sich von den Schwulen distanzierte.
Seht her – ich bin keiner von denen …
Er hatte Angst, und wahrscheinlich erging es vielen Typen so. Möglicherweise glaubten sie, sich am besten in Sicherheit bringe n zu können, wenn sie so heterosexuell auftraten wie möglich.
Mein lieber, tapferer Bruder, dachte sie. Du hast dich nie verbogen.
Auf einmal hatte sie keine Lust mehr auf diese Unterhaltung. Sie schaltete das Diktafon aus und packte ihre Sachen zusammen.
» Das war’s schon?«, nörgelte Ted. » Und deswegen bin ich hergekommen?«
Romy verließ die Cafeteria fast im Laufschritt. Sie musste an die frische Luft.
*
Noch nie hatte Maxim so gefroren. Noch nie war er so erschöpft gewesen. Er hatte ein paar Bissen von Björns Gemüsereis gegessen, doch dann hatte er kaum noch die Gabel zum Mund führen können, weil ihn ein heftiger Schüttelfrost gepackt hatte.
Björn hatte sämtliche Schränke und Schubladen nach einer Wärmflasche abgesucht und schließlich eine gefunden. Er hatte sie mit kochend heißem Wasser gefüllt, sie in ein schützendes Trockentuch gewickelt und Maxim gereicht.
» Willst du nicht noch ein bisschen schlafen?«
Maxim hatte sich geweigert, halsstarrig, als hinge ihrer beider Leben davon ab, dass keiner von ihnen sich allein in einem Zimmer aufhielt.
» Was soll schon passieren?«, hatte Björn gefragt. » Die Haustür ist abgeschlossen, die Kellertür auch,
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