Spiegelschatten (German Edition)
hatte sie damals gedacht und sich gewünscht, das einmal in Wirklichkeit zu sehen.
Der Gesichtsausdruck des Mannes veränderte sich, wurde weicher und ein bisschen verlegen.
» Kommen Sie doch herein«, sagte er und machte die Tür so weit auf, dass Romy bequem eintreten konnte. » Es gibt da etwas, das ich Ihnen sagen muss.«
Ein vielstimmiges, wisperndes Ticken in den unterschiedlichsten Rhythmen begleitete ihren Weg durch den breiten Flur. Überall hingen Uhren. Es gab kaum noch freie Stellen an den Wänden.
Romy fühlte sich wie damals, als ihre Eltern kurze Zeit mit antiken Möbeln gehandelt hatten. Mit Björn hatte sie gern in der großen Scheune gespielt, die zum Möbellager umfunktioniert worden war. Die dunklen alten Möbelstücke und der strenge, muffige Geruch, den sie verströmten, hatte ihnen Schauer über den Rücken gejagt.
Hier war derselbe Geruch. Altes Holz, Wachs, Öl und Möbelpolitur.
Romy hatte das Gefühl, als gerate zwischen all den unterschiedlich tickenden Uhren ihr Herzschlag aus dem Takt.
Tack-tack-tackata-tack.
Sie legte die Hand auf die Brust und zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Im nächsten Moment versank sie im Flausch eines riesigen samtroten Sessels und blickte in die betrübten Augen des Vermieters, der vor Unbehagen zu schnaufen begann.
» Ihr Freund…« Er suchte nach Worten. Betrachtete seine kräftigen, blassen Hände, die sich unruhig auf seinen Knien bewegten. » Er ist tot.«
Romy starrte ihn betroffen an und schämte sich dafür. Aber sie war sich absolut sicher, dass dieser Mann ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen hätte, wenn sie sich als die zu erkennen gegeben hätte, die sie war.
» Er ist ermordet worden. Oben in seiner Wohnung.«
» Wer hat ihn… gefunden?«
Das kaum merkliche Stocken verfehlte seine Wirkung nicht. Der Mann rang um Fassung. Er räusperte sich ein paar Mal, bevor er antwortete.
» Das war ich. Er lag da– ein entsetzlicher Anblick.«
Romy nickte mitfühlend, als hätte sie schon Dutzende von Leichen gefunden und könne sein Entsetzen gut nachempfinden. Ich sollte eine Aufnahmeprüfung in Cals Schauspielschule machen, dachte sie und verachtete sich selbst. Ein bisschen jedoch bewunderte sie sich auch für ihr Talent, als nämlich der Mann ein Taschentuch aus der Tasche zog und sich die Augen trocknete.
» Wie ist er denn… also… wie…«
» Er wurde erschlagen. Anscheinend hat er sich nicht mal gewehrt.« Zustimmung heischend sah er sie an. » Ich meine, wenn man sich heftig wehrt und um sein Leben kämpft, dann sind doch Spuren davon zu erkennen, nicht wahr?«
» Ja.«
» Es waren aber keine zu sehen.« Er schüttelte traurig den Kopf. » Ich habe auch keinen Lärm gehört, sonst hätte ich Herrn Blum vielleicht helfen können.«
» Sie waren während der Tatzeit zu Hause?«, fragte Romy.
» Ich habe in den vergangenen Tagen eine Erkältung auskuriert und keinen Schritt vor die Tür getan.«
Nachdem er es gesagt hatte, erkannte Romy die Anzeichen für eine Erkältung: die rote, etwas geschwollene Nase, die Herpesbläschen auf der Unterlippe, die trüben Augen. Sie nahm jetzt auch einen schwachen Geruch nach Kamille und Pfefferminz wahr. Außerdem trug der Mann ein Tuch um den Hals.
Aber sie erkannte noch etwas anderes: das erneute Misstrauen in seinem Blick. Sein Gesicht wurde ganz hässlich davon.
» Sie sind keine Freundin von Herrn Blum.«
Der Vorwurf traf sie so plötzlich und so heftig, dass Romy zusammenzuckte. Sie wusste sofort, welcher Fehler ihr unterlaufen war.
Eine Freundin hätte anders reagiert. Sie hätte das Wort Tatzeit nicht benutzt. Sie hätte geweint und keine Fragen gestellt.
» Wer sind Sie?«
Romy beschloss, nicht darum herumzureden. Vielleicht konnte sie mit verspäteter Ehrlichkeit noch etwas retten.
» Ich bin Volontärin beim KölnJournal …«
Weiter kam sie nicht. Der Mann stand auf und wies zur Tür.
» Raus hier«, sagte er gefährlich leise.
» Bitte entschuldigen Sie. Ich wollte nicht… Ich hatte nicht die Absicht…«
» Raus!«
Romy schnappte sich ihre Tasche und zwang sich, langsam zur Tür zu gehen, obwohl sie am liebsten gerannt wäre. Weg von dem Mann, der alles Recht der Welt hatte, wütend zu sein. Fast hätte sie sich geduckt, weil sie insgeheim einen Schlag befürchtete.
Das Ticken der Uhren blieb in ihrem Kopf, als sie sich in ihren Wagen setzte, um zur Redaktion zu fahren. Sie fragte sich, ob sie den Mut finden würde, noch einmal hierherzukommen, um
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