Spiegelschatten (German Edition)
gaben den Blick auf das schwarze Skelett eines großen Baums frei, durch das die Fassaden der gegenüberliegenden Häuser schimmerten. Die Fotografien an den Wänden zeigten runde Steine, über die ruhiges Wasser floss.
Hier hatte jemand die Erkenntnisse der Psychologie nach allen Regeln der Kunst umgesetzt.
» Tobias litt unter Depressionen«, erklärte Urs Grünwald, nachdem er Bert eine Tasse Kaffee gebracht und sich selbst auch eine genommen hatte. » Er war ein– bedauerlicherweise– einsamer Kämpfer. Seine Familie hat ihn zwar finanziell unterstützt, doch darüber hinaus hat sie nichts für ihn getan.«
» Ein Zerwürfnis?«, fragte Bert.
Urs Grünwald nippte an dem sehr heißen Kaffee. » Nein. Dazu hätte man sich vorher ja streiten müssen. Eine Auseinandersetzung hat jedoch, wie Tobias beteuerte, nicht stattgefunden.«
Armer Junge, dachte Bert.
» Und zwischen den Brüdern?«, fragte er.
» Funkstille.« Urs Grünwald lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück. Bert vermutete, dass er sich überlegte, ob er seine ärztliche Schweigepflicht in diesem Fall außer Acht lassen durfte. » Gerade zwischen den Brüdern.«
» Aus welchem Grund?«
Urs Grünwald runzelte die Stirn. Er warf einen kurzen Blick aus dem Fenster, als könnte ihm das bei seiner Entscheidung helfen. Dann gab er sich sichtlich einen Ruck und blickte Bert ins Gesicht.
» Ich werde mich nicht auf meine Schweigepflicht berufen«, erklärte er. » Wenn meine Informationen Ihnen helfen können, den Mörder zu finden, dann sollen Sie sie haben.«
Bert nickte.
» Tobias war homosexuell und Vater und Bruder konnten das nicht akzeptieren. Er ging offen damit um. Nur da, wo er sich in einem geschützten Raum befinden sollte, ausgerechnet bei seinen Eltern und seinem Bruder, durfte er seine Lebensform nicht einmal thematisieren. Seine Homosexualität wurde einfach totgeschwiegen, verstehen Sie?«
» War das der Grund für seine Depressionen?«, fragte Bert.
» Auch.«
Urs Grünwald saß ganz entspannt, während er sprach. Er fuchtelte nicht mit den Händen herum, wippte nicht mit dem Fuß, spielte nicht mit der Tasse, die vor ihm stand. Dieser Mann war in der Lage, seinen Patienten Stabilität zu vermitteln.
» Man wird ja nicht von heute auf morgen homosexuell. Man erlebt eine Kindheit voller Fragen und Unsicherheit, beobachtet sich, vergleicht sich, kann Gefühle nicht einordnen. Und wenn man dann niemanden hat, an den man sich vertrauensvoll wenden kann, bleibt man damit allein.«
» Und schließlich kommt die Pubertät.«
» Richtig.« Urs Grünwald nickte. » Und all die diffusen Ängste explodieren.«
» Ich habe seine Mutter kennengelernt«, sagte Bert.
» Dann wissen Sie ja, wovon ich rede. Mir ist es, trotz diverser Versuche, leider nicht gelungen. Ich hätte sie so gern ins Boot geholt, sie ermuntert, ihrem Sohn Rückendeckung zu geben. Doch sie hat sich, wie Tobias es ausdrückte, in ihrem Schweigen verkrochen und war nicht dazu bereit, sich auch nur ein einziges Mal mit mir zu unterhalten.«
» Geschieht es oft, dass Sie die Familien in Ihre Therapien einbeziehen?«
» Bei jungen Menschen versuche ich es immer. Aber noch nie bin ich so abgeblitzt wie bei der Familie Sattelkamp.«
Armer, armer Junge, dachte Bert wieder.
» Hat Tobias von Feinden gesprochen? Von dem Gefühl, bedroht zu werden? Hat er Ausgrenzungen erlebt, die das, verzeihen Sie, normale Maß überschritten?«
Urs Grünwald schüttelte den Kopf. » Nein. Darüber hat er nie etwas verlauten lassen.«
» Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen, was Ihnen angesichts der Geschehnisse inzwischen in einem verdächtigen Licht erscheint?«
» Tut mir leid. Ich wollte, ich könnte Ihnen weiterhelfen.« Urs Grünwalds Augen verengten sich. » Sie fragen so gezielt nach seiner sexuellen Orientierung, Herr Kommissar. Hat sie denn etwas mit seinem Tod zu tun?«
Spätestens die Samstagausgaben der Zeitungen würden es groß verkünden, also war es sinnlos, die Frage des Psychotherapeuten nicht zu beantworten.
» Tobias ist der dritte Homosexuelle, der in dieser Woche im Raum Köln/Bonn ermordet wurde.«
Die Fassungslosigkeit in Urs Grünwalds Gesicht war unverkennbar.
» Du liebe Güte«, sagte er und starrte seine Brille an, als sähe er sie zum ersten Mal.
Bert trank seinen Kaffee aus und verabschiedete sich. Das Koffein verfehlte seine Wirkung. Er fühlte sich müde und schlapp. Auf dem Weg zur Autobahn rief er Rick an, denn er hatte versprochen, ihn
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