Spiegelschatten (German Edition)
und es war zu eisig, als dass man ihre Wärme hätte spüren können. Trotzdem war es gut zu wissen, dass die Kälte bald ein Ende haben würde.
Maxim machte sich auf den Weg in die Innenstadt. Fünf, sechs Kilometer Fußmarsch waren genau das, was er jetzt brauchte.
*
Rick war wie versprochen zum Dienst erschienen. Er wirkte noch ein bisschen angeschlagen, doch in seinen Augen blitzte schon wieder die alte Lebhaftigkeit auf, und beim Autofahren hatte er sich aufgeregt, als sei es Wochen her, dass er ermattet und schniefend auf seinem Sofa gelegen hatte.
Björn Berner versicherte ihnen, den Zettel nicht angefasst zu haben. Bert streifte Latexhandschuhe über, von denen er immer ein, zwei Paar in der Tasche trug, löste vorsichtig den Klebestreifen und ließ das Papier in die Klarsichthülle fallen, die Rick ihm hinhielt.
Eine eindeutige Drohung. DIN A5. Unliniert. Mit rotem Marker geschrieben, sodass es aussah, als bestünde jeder der großen Druckbuchstaben aus Blut.
» Der Typ hat Sinn für Dramatik«, sagte Rick und verschloss die Klarsichthülle sorgfältig. » Und? Was meinst du?«
» Ich denke, dieses Schreiben stammt von dem Täter«, antwortete Bert. » Du wirst sehen– sie werden im Labor keine Fingerabdrücke darauf finden.«
» Selbst wenn«, sagte Rick. » Ich glaube nicht, dass wir es hier mit einem Täter zu tun haben, der bereits aktenkundig ist.«
» Bauchgefühl?«, fragte Bert scheinheilig. Rick verließ sich im Allgemeinen nicht auf Gefühle. Er zog Fakten vor.
» Er tötet rasend schnell«, verteidigte Rick seinen Eindruck. » Dahinter scheint Leidenschaft zu stecken oder zumindest ein starker Drang. Zudem waren all seine Opfer schwul. In letzter Zeit gab es keine Mordserie, der ausschließlich Homosexuelle zum Opfer gefallen sind. Das alles spricht dafür, dass er gerade erst begonnen hat.«
Der Gedankengang hatte etwas für sich, wie Bert zugeben musste.
» Das Schreiben könnte allerdings auch von einem Trittbrettfahrer stammen«, überlegte Rick. » Einem Menschen vielleicht, der im Leben keine große Rolle spielt, und dem es Spaß macht, zur Abwechslung selbst mal ein bisschen Angst und Schrecken zu verbreiten.«
Die Zeitungen hatten über die Trauerfeier für die Opfer des Schwulenmörders berichtet. Im KölnJournal war ein langer, bemerkenswerter Artikel Romy Berners erschienen. Auch Ingo Pangold vom Kölner Anzeiger hatte sich intensiv mit der Aktion und ihren Hintergründen auseinandergesetzt. Nachdem gestern zudem das lokale Fernsehen über die Morde berichtet hatte, waren die Fälle in aller Munde.
Für den Abend war eine Pressekonferenz geplant, auf der Polizei und Staatsanwaltschaft über den Stand der Ermittlungen berichten würden. Nur gab es bisher keine Erfolge zu vermelden, was Bert Bauchschmerzen bereitete. Wurde ein Fall nicht innerhalb der ersten Tage aufgeklärt, erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit, dass man den Täter gar nicht überführen würde, von Stunde zu Stunde.
Sie gingen in die Küche, wo Björn Berner saß und auf sie wartete.
» Ist Ihr Freund wieder abgereist?«, fragte Rick, dessen Stimme immer noch eine Oktave tiefer klang.
» Nein. Ich glaube, das da draußen hat ihn ziemlich umgehauen, auch wenn er es niemals zugeben würde. Vielleicht ist er in der Unibibliothek. Zur Ablenkung. Er will sein Studium so schnell wie möglich durchziehen, deshalb arbeitet er viel.«
» Ich dachte, er ist zu Besuch hier«, sagte Rick. » Es sind doch Semesterferien.«
» Er ist ehrgeizig.« Björn Berner knibbelte nervös an der Nagelhaut seines Daumens. » Aber… was ist mit dem Drohbrief? Glauben Sie, der Mörder hat ihn geschrieben? Und ihn eigenhändig an der Tür festgemacht?«
Bert hätte den jungen Mann gern beruhigt. Er durfte ihn jedoch nicht in falscher Sicherheit wiegen. Außerdem hielt er Björn Berner für zu intelligent, um ihn mit Ausflüchten abspeisen zu können.
» Wir werden das Papier auf Fingerabdrücke untersuchen lassen…«
» …die aber bloß was bringen, wenn der Typ schon registriert ist, oder?«, unterbrach Björn Berner ihn.
Bert nickte. » So ist es. Leider.«
» Das heißt, er tobt seinen abartigen Schwulenhass aus, und keiner kann ihn stoppen, weil niemand weiß, wer er ist ?«
Bei den letzten Worten war er laut geworden. Aus Verzweiflung, wie Bert erkannte. Das Gefühl war ihm selbst nur allzu vertraut. Es war unerträglich, hinter einem Täter her zu sein und zu wissen, dass jede weitere Tat, die er beging, von der
Weitere Kostenlose Bücher