Spieglein, Spieglein an der Wand
ich aufgestanden wäre, hätte ich wohl irgendetwas zu ihr sagen müssen, also blieb ich lieber liegen und tat so, als wäre ich eingeschlafen. Und irgendwann war ich es dann auch.
Es ist eine Tür.
Der Lärm kommt von einer Tür und einer Hand, die dagegenhämmert. Mein Körper wird von Panik überrollt, während ich zur gestrigen Nacht zurückspule. Keiner hat uns zusammen am Strand sitzen sehen. Niemand sah uns vom Strand zurückkommen, an der Rezeption vorbeigehen und in den Fahrstuhl hinein.
„Das ist meine Mutter …“ Sie flüstert so leise, dass ich sie kaum hören kann.
„Arendse!“
Die Mutter dagegen kann ich sehr gut hören.
„Versteck dich schnell!“ Die Panik leuchtet wie zwei Neonstrahler aus ihren weit aufgerissenen Augen.
„Arendse, bist du wach?!“
Mein Arm stößt die leere Cognacflasche vom Nachttisch. Sie landet mit einem dumpfen Knall auf dem Teppich. Ich habe schon oft von Leuten gehört, die nach einem One-Night-Stand aus dem Bett gekickt wurden, und jetzt darf ich dieses Vergnügen buchstäblich am eigenen Leib erfahren. Arendse platziert beide Füße auf meiner Hüfte und schubst mich aus dem Bett. Ich kippe nach unten auf den Boden und knalle mit dem Hinterkopf gegen die Cognacflasche, die unter den Nachttisch rollt.
Übelkeit, Schmerzen, Kälte. Alles ist furchtbar und mein Körper hasst mich.
„Jetzt versteck dich doch endlich!“
Arendses Mutter verliert die Geduld und öffnet die unverschlossene Tür. Energische Schritte hallen auf dem Boden. Ich falte die Hände über der Brust und rolle mich schnell in mein Versteck unter dem Bett. Eine Sekunde später stehen die Schuhe der Mutter genau an der Stelle, an der ich eben noch gelegen habe.
„Arendse, was machst du denn da?“
„Ich versuche zu schlafen.“
Sie ist eine gute Schauspielerin. Die Panik in ihrer Stimme ist weg und sie klingt nur noch verschlafen und brummig. Die Matratze über mir bewegt sich leicht.
„Puh, wie es hier stinkt!“
Arendses Mutter geht zum Fenster hinüber. Die Gardinen werden aufgerissen und ein noch gnadenloseres Licht strömt durchs Fenster. Arendse gibt einen protestierenden Laut von sich. Kurz darauf wabert eiskalte Luft über den Boden und unter das Bett. Ich bekomme am ganzen Körper Gänsehaut, denn ichtrage lediglich meine Boxershorts und den Verband ums Handgelenk.
Meine Klamotten!
Wo sind bloß meine restlichen Klamotten?
Ich krümme mich zusammen und spähe zum Fußende des Bettes, wo ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen steht. Meine Klamotten liegen auf dem einen Stuhl, nur zur Hälfte vom Bettüberwurf verdeckt. Lieber Gott, bitte lass Arendses Mutter bloß nicht die Hälfte meiner Jacke und mein eines Hosenbein sehen, das unter dem Überwurf hervorragt.
„Hast du Alkohol getrunken?“
Die Schuhe der Mutter sind vom Fenster zurückgekehrt und stehen jetzt wieder mit den Spitzen in Richtung Bett. Sie hat braune Beine und dünne Fesseln. Ihre Schuhe sind schwarz-weiß. Sie scheinen eng zu sein, die Haut darüber kräuselt sich.
Über mir ist ein gedämpftes Murmeln zu hören. Es klingt verneinend. Bestimmt hat sich Arendse die Bettdecke über den Kopf gezogen.
„Arendse, antworte mir! Hast du getrunken?“
Jetzt treten die Schuhe der Mutter so nah heran, dass sie bis unter das Bett ragen. Zwischen meiner Nase und den weißen Schuhspitzen liegen nur noch fünf Zentimeter. Über mir wird an der Bettdecke gezerrt.
„Ich rieche das doch genau.“
„Aber es waren nur zwei Gläser Rotwein!“
Plus eine halbe Flasche Cognac.
Und apropos Cognac – die Flasche liegt unter dem Nachttisch und der Flaschenhals lugt gut sichtbar darunter hervor. Mein Arm tastet sich lautlos unter dem Bett hervor und weiter bis unter den Nachttisch, wo er nach dem Flaschenboden greift. Jetzt liegen zehn Zentimeter verbundener Arm frei sichtbar aufdem Fußboden, wo Arendses Mutter ihn erblicken könnte. Langsam ziehe ich die Flasche unter das Bett, ohne dabei gegen Tischbein, Bett oder Wand zu stoßen. Mein Handgelenk wird in einen völlig falschen Winkel gedreht und der Schmerz strahlt in die Finger und bis in den Ellbogen. Au, so ein Mist.
Jetzt ist die Flasche unter dem Bett in Sicherheit.
Und der Heilungsprozess meines Handgelenks wird sich um mindestens eine Woche verzögern.
Arendse räkelt sich über mir im Bett. Es klingt, als würde sie die andere Decke über sich ziehen. Ihre Mutter spricht in jener Tonlage, die Frauen für gewöhnlich haben, wenn sie gleichzeitig ihre Hände
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